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476 Psychische Studien. XXI. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1894.)
„Sohn eines Sakristans, studirte ich an der theologischen
„Akademie in Moskau." — „Dann erinnerst Du Dich wohl
„des Metropoliten Piaton, als er noch Lehrer an der
„Akademie war?" — „Erinnern?" — rief der Erzpriester,
indem er die Hände zusammenschlug und reichliche
Thränen über seinen Bart rollten, — „ich mich des Metropoliten
Piaton blos erinnern? Möge die Zunge mir in der
Kehle vertrocknen, wenn ich je vergesse, ihn zu loben und
zu segnen! Der Herr möge meiner vergessen, wenn ich je
zur Ruhe gehe, ohne mein Gebet für Piaton zu sprechen.
Er liebte mich väterlich; ich war sein bester Schüler; er
verhiess mir eine grosse Zukunft; aber der Wille des
Schöpfers lenkte es anders: — ich ward Weltgeistlicher,
und bei Piaton erschien ein anderer, würdigerer Nachfolger,
Wassili Michailowitsck Drosdow, dessen Stern erglänzte, und
auf dem heute noch der Segen Piaton!% ruht." —
Der Erzpriester, so redend, weinte, und auch über die
Wangen Philarefs rollten Thränen beim Gedenken Platon\
der ihn zu seinem geistlichen Nachfolger ernannt hatte in
Verkündigung des Wortes Gottes. Dieser schuldige Mönch
und dieser geistliche Herrscher, der das Geschick jenes in
seiner Gewalt hat, waren einst gleich nahe dem Herzen
Platon's gewesen.
„Weiter! weiter!" — sagte PUlaret — „Weiter? ich
heirathete, — die Welteitelkeit bewältigte mich; — was im
knospenden Zustande war, wurde von der Kälte der
Lebensstürme zerstört. Beim Heere verfloss meine Dienstzeit
, und mit dem Heere zog ich gegen den Führer der
Gallen." — „So, so! — nun, und da hattest Du Gelegenheit
, den seligen Kaiser Alexander zu sehen ?" — „Oft feierte
ich nach dem Kampfe Dankgebete für die Siege, welche
unseren Waffen verliehen waren, und diese unwürdige
Rechte segnete den Monarchen und wurde von ihm mit
christlicher Ehrfurcht geküsst." — „Nun, das ist noch keine
Tapferkeit! Hast Du am Kampfe Antheil genommen?" —
„Das Schwert habe ich nicht ergriffen; aber durch die
Kraft des Kreuzes unseres Herrn verscheuchte ich dreimal
unsere Feinde, und es vor den Reihen unserer wankenden
Soldaten erhebend, flösste ich ihnen neuen Muth und neue
Kühnheit ein und führte sie auf die Wälle unserer Feinde.
Die Soldaten und die Heerführer und selbst der Monarch
liebten mich sehr, und einst küsste mich sogar der Monarch
auf den Mund, und Thränen glänzten dabei in seinen
guten, lieben Augen. — „Also, ein solcher bist Du!" —
dachte Philarel, indem er die hohe, kräftige Gestalt des
Erzpriesters betrachtete, — „wirklich nur im Kriegslager ist
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