http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1894/0504
492 Psychische Studien. XXL Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1894.)
Verstand und Logik in ihren seltsamen und wunderlichen
Lehren steckt.
Wollen wir das Denken und Empfinden eines Volkes
verstehen, so müssen wir uns vor allen Dingen in seine
religions-philosophischen Anschauungen versenken. Hier will
ich zum besseren Verständniss des oben Gesagten nur einige
der wichtigsten Lehren der beiden indischen Religionen kurz
darstellen. Die indische Oedankenwelt ist uns modernen
Europäern eine ziemlich fremde. Der erste hauptsächliche
Grund hierfür liegt wohl darin, dass unsere jetzige, allgemein
herrschende Weltanschauung auf Grundprincipien beruht,
die denjenigen der indischen Religionsphilosophie zum grössten
Theil schnurstracks entgegenlaufen. Unsere materialistische
Wissenschaft hält die Materie, den Stoff für das Ursprüngliche
und allein Wirkliche, von dem die Kraft, der Geist
nur ein blosses Anhängsel, Ergebniss oder Erzeugniss ist.
Für den Inder hingegen ist der Geist das allein Wahre
und Wesentliche, das Primäre, von dem das Körperliche
nur der Ausfluss, das Product ist. Den zweiten trennenden
Grund, warum es so schwer wird, uns mit der indischen
Geisteskultur zu befreunden, bildet der Glaube der Inder
an die Präexistenz und an die fortwährende Wiederverkörperung
der Seele, welcher Glaube unserem modernen
Denken und Fühlen durchaus widerstreitet.
Doch wollen wir es trotz alledem einmal versuchen,
uns in jenen scheinbar überspannten Gedankenkreis zu
versetzen. Aus der Präexistenz und der Seelenwanderung
ergab sich, gestützt auf ethische Erwägungen und hervorgehend
aus der ewigen Verkettung von Ursache und Wirkung,
das Gesetz des „Karma" oder der moralischen Action,
d. h. das Gesetz, nach welchem je nach Verdienst oder
Schuld, aufgehäuft in einem früheren Dasein, unser gegenwärtiges
Leben — als eine Folge unserer guten oder bösen
Handlungen — sich gut oder böse gestalten rauss. „Was Du
bist und sein wirst, was Du hast und erfährst, Freude und
Schmerz, Schönheit und Hässlichkeit, Macht und Niedrigkeit,
Armuth und Reichthum, Geburt und Tod, es sind lediglich
die Früchte Deines eigenen Thuns. Du erntest nur, was
Du selbst gesäet hast." (Koppen: — „Die Religion des
Buddha". I, 296).
.... „Des Menschen Thun
Ist eine Aussaat von Verhängnissen,
Gestreuet in der Zukunft dunkles Land,
Den Schicksalsmächten hoffend übergeben."
{Schiller: — „Piec." II, 6).
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1894/0504