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I
?. Lougowskoy: Wunderbarer Vorfall. 527
entgegen, um mich zu küssen, gar nicht achtend, dass Bart
und Schnurrbart mir noch ganz voll hingen von den Abzeichen
meiner Reise in einem so heftigen Froste. — „Nun
aber legen Sie schnell ab; da haben Sie mich aber*erfreut.
Ha, sind Sie gut durchgefroren, denn draussen ist es kalt,
recht kalt! Wohin führt Sie denn Gott in dem Froste?"
— So bestürmte mich der alte Priester mit Fragen. Ich
beeilte mich, die Neugierde des guten Alten zu befriedigen,
indem ich ihm erzählte, dass ich in die Stadt N. zum
Schwiegersohne reise, den ich nun schon seit zehn Jahren
nicht gesehen hätte. Während dieses Erzählens gelang es
mir mit Hilfe Marfa\ mich meiner schweren Pelze zu entledigen
, die mich auf meinem Wege beschwerten, und trat
dann in den mir wohlbekannten, nicht hohen, mit lichten
Tapeten bekleideten Saal, in welchem die altväterischen
Möbel standen und zwei bis drei Bilder vom früheren Erzbisehof
in von der Zeit nachgedunkelten Rahmen an den
Wänden hingen. An der gegenüberliegenden Wand hingen
übrigens auch einige Oeldrucke, meistentheils Prämienbeilagen
von dem illustrirten Wochenjournal: — „Niwe",
„der Acker, Malerische Rundschau", und anderer illustrirten
Journale.
Vater Nikolai war einer von den sympathetischesten
Vertretern der ehrwürdigen Priester alter Zeit, die jetzt
leider nach und nach verschwinden. Er hatte seine Studien
gemacht in einem früheren Seminar mit alten ~ Gewohnheiten
, um den letzten Groschen, wie er selbst sagte, oder
auch, wie er sagte: — „Ich habe irgend etwas gelernt, und
wie es eben ging. Aber in der Schule hatte ich meine
innere religiöse Neigung nie verloren", — bis sogar später
er selbst bemerkte, dass er beim Austritte aus diesem
Seminar noch sein ganzes kindliches Empfinden besass und
doch sich dabei vollkommen bewusst war, wie nöthig ihm
die Weiterbildung sei. Um diese zu erreichen, liess Vater
Nikolai sich viele Journale und ernste Bücher kommen, und
durch lang andauerndes Lesen erreichte er die Stufe reichen
Wissens in fast allen Zweigen der Wissenschaft. Im Dorf
S. war er nun schon seit dreissig Jahren Priester; aut
seinen Stand schaute der Vater Nikolai als auf einen
erhabenen; und trotz der Schwierigkeit der Verhältnisse
kam er allen seinen Pflichten mit einer besonderen Aufmerksamkeit
und Strenge nach. In seinem Privatleben
bezeigte der Vater Nikolai eine besondere Herablassung und
Friedensliebe, obwohl er sich immer mit einer gewissen
Würde trug, ganz seinem Stande entsprechend. Seine
Pfarrkinder liebten ihn aus Dankbarkeit für die Theilnahme,
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