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530 Psychische Studien. XXI. Jahrg. 11. Heft. (November 1894.)
vor dem Weihnachtstage spannte ich meinen Puchs an und
fuhr allein in das Dorf N., welches von S. ungefähr zehn
Werst weit entfernt liegt. Der Weg zu diesem Dörfchen
führte durch den Wald, durch den Sie jetzt auch zu reisen
haben. Dieser Wald ist ein alter Urwald; nachgepflanzt
hatte ihn, wie das Volk jetzt erzählt, der Urgrossvater
unseres jetzigen Gutsbesitzers; und unser Graf, das wissen
Sie ja, ist nun schon 63, seit dem Mid-Nikolai (d. i. 9. Mai).
Aus dem Dorfe fuhr ich fort bei der Abenddämmerung, so
dass, bis ich in den eigentlichen Wald kam, es schon ganz
dunkel war. Nun hatte ich aber gehört, dass in diesem
Winter die Wölfe ganz besonders blutgierig und wüthend
wären. Einen von unseren Bauern aus S., der im angeheiterten
Zustande vom Markte zurückgekehrt war, hatten
sie in Stücke zerrissen und seinem Pferde die ganze Seite
herausgerissen. Dennoch kam mir nicht in Gedanken, dass
mir etwas Aehnliches geschehen könne " — Vater Nikolai,
der h:.er sein Glas Thee zu Ende trank, neigte sich zum
Heiligenbilde und machte langsam das Kreuzzeichen, und
seinen Bart glättend, setzte er seine Erzählung fort. —
„An diesem selben Tage nun war ein heftiger Frost. Ich
wickelte mich fester in meinem Pelz, drückte meine Pelzmütze
tiefer in meine Stirn und fuhr langsamer meines
Weges; dachte, bis zur Nacht komme ich doch nach N.,
übernachte dort und werde morgen da meine Pflichten
erfüllen. So weiter fahrend, kam ich an die Stelle im
Walde, auf der eine hohe, dickästige Buche steht. Das
ist so gerade die Hälfte des Weges. Ich hatte mich etwas
in meine Gedanken verloren und kam gerade auf dieselbe
Höhe mit der Buche, als ich fühlte, dass mein Pferd
plötzlich still stand, furchtsam mit seinen Hufen stampfte
und sogar rückwärts ging. Ich erhob meinen Blick, und
Sie können sich nicht vorstellen, was ich sah." — Vater
Nikolai hielt hier eine Minute an, als wenn er sich neue
Kraft sammeln wolle, um weiter zu erzählen und mir
genügende Zeit zu lassen, mich in die richtige Stimmung
zu versetzen. Sein Gesicht nahm einen begeisterten Ausdruck
an, und ein feierlicher Glanz strahlte aus seinen
Augen. Er erhob die Hand und fuhr mit einem so
würdevollen Tone fort, wie ich ihn noch nie hatte reden
hören.
„Wunderbares Licht, hell, strahlend und dennoch weich,
als wenn es hinsterbend wäre, überfluthete mit einem zärtlichen
Scheine, mit weichen Wellen den ganzen Umkreis.
Solch ein Licht hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte doch
schon elektrisches Licht kennen gelernt; aber nein, dieses
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