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572 Psychische Studien. XXI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1894.)
Schwach nur fliegen die Sirahlen
Von dem bleichen Licht
Üeber die vollen Locken,
Ueber das süsse Gesicht.
's Liegt der Schatten vom Köpfchen
An der Wand. Ganz leis
Neben ihm die Mutter
Sitzt und spinnt mit Fleiss.
Ist ihr ein Traum gekommen
Gestern in der Nacht,
Weh ward ihr und beklommen
Duich des Traumes Macht: -
„Fünfte Woche schon; keine
Nachricht langte an —
Ist er denn verschollen? —
Von dem lieben Mann.
„Herr, erbarm' Dich unser!
Wenn dem Bauern nur
Unheil nicht auf dem öden
Wege widerfuhr!
„Bin ja ein Weib, und kränkelnd
War ich jahraus, jahrein;
Was werd* ich beginnen,
Acb, so seelen-allein!
„Klein ist noch das Knäbchen,
Wächst nicht auf so schnell • •.
Auf ein Geschenk vom Vater
Wartet der arme Gesell." —
Schaut die sehmer«bewegte
Mutter dem Kleinen zu: —
„Lege Dich nieder, Liebchen,
vtfas auch drusselst Du!" —
„Mütterchen, weshalb denn?
Selbst hast keine Kuh,
Spannst den ganzen Abend,
Und noch sitzest Du." —
„Ach, mein Hetzchen, zu spinnen
Hab ich Kraft nicht mehr.
Gottes Welt ist so traurig,
Ist mir so düster und schwer!" —
„Mütterchen, was weinst Du?"
Drauf der Knabe begann;
An die Schulter der Mutter
Lehnt er sein Köpfchen an.
„Werde nicht weinen, mein
Freundcheu,
Und auch Du sei froh;
Leg' Dich jetzt nieder, zu schlafen,
Bring Dir ein Bündelchen Sttob,
„Will DirDein Böttchen machen;
Liebchen, sei nur still . . .
Vater bringt ein Geschenk Dir,
Wenn's der Himmel will;
„Macht Dir wieder einSchlittchen,
Wie Du's so oft begehrt, —
Setzt in den Schlitten das Söhnchen,
Auf dem Hofe er's fährt." —
Söhnchen ist eingeschlafen.
In gleichraässigem Gang
Surrt eintönig das Spinnrad . , .
Nacht ist so lang — so lang.
Kaum der russige Kienspan
Spärlichen Schein verleiht,
Wirbelndes, wildes Wetter
Dröhnender, klagender schreit.
Als ob Jemand stöhne
An der Pforte: so scheint's;
Als ob vielstimmig ertöne
Todtenklage: so weint's . . .
Naht ein Traumbild leise,
Leise der Spinnerin: —
Mutter, die längst gestorben,
Setzt zu ihr sich hin.
Auf die Ofenbank setzt sich
Mutter und sieht sie an.
„Töchterchen, wie Du so blass bist!"
Sie zu reden begann.
„Kannst denn in der Ehe,
Täubchen, glücklich sein?
Kannst denn bei sorgenvoller,
Schwerer Arbeit gedeihen?
„Wem auch ähnelst? wer gab Dir
So ein Gesicht, mein Kind?
Deine ältren Schwestern
Milch und Blut ja sind.
„Und sie sind auch lustig,
Schaffen zum Uebermaass,
Dreschen ist ihoen und Mähen
Alles nur ein Spass.
„Lobt es die ganze Familie,
Wie Du so klug und fein;
Dich zu lieben ... zu lieben,
Weiss nur Dein Mütterlein.'* —
Klopfen tönet plötzlich
Durch die schwirrende Nacht
„Väterchen gekommen!"
Kleiner ist erwacht.
Auf vom Bette springt er,
Wänglein wie Rosen roth.
„Väterchen gekommen,
Bungt mir süsses Brot!" —
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