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Wolf: Eine Lücke in der medizinischen Wissenschaft. 587
IL Abtheilung.
Theoretisches und Kritisches.
Eine Lücke in der medicinischen Wissenschaft.
Von Richard Wolf in Breslau.
Die Lehre von der kranken Seele, wie sie heute der
Gegenstand des psychiatrischen Studiums ist, wird aufgebaut
auf der Lehre vom Gehirn, seinen Theilen und Functionen,
und letztere selbst betrachtet nach einer Eintheilung, weiche
in ihren Grundziigen von Aristoteles herrührt. Aristoteles
war ohne Zweifel ein Talent ersten Ranges, welches es
verstand, die Entdeckungen seines Schülers Alexander in
hervorragender Weise zu naturwissenschaftlichen Systemen,
die Erfahrungen aus der Geschichte der griechischen Städte
zu staatswissenschaftlichen Betrachtungen zusammenzufassen
und aus den Werken der Sprache — in Poesie und Prosa
— ihre Gesetze: — Poetik und Logik — abzuleiten. Dass
er aber nur Talent, nicht Genie war, zeigt uns seine —
wir möchten sagen: — rein exoterische [blos äusserlichej
— Psychologie, jene Psychologie, die noch heute auf Kanzel
und Katheder der Behandlung der Seele zu Grunde gelegt
wird. Ein platter, nüchterner Realismus, der vom Selbstbewusstsein
und vom Tagbewusstsein ausgeht und dasselbe
in seine einzelnen Theile oder Functionen zerlegt, ist ihr
Grundzug. Das Selbstbewusstsein aber ist, wie heutzutage
vielfach angenommen wird, ein Product der Gehirnthätigkeit
und der äusseren sinnlichen Eindrücke. In diesem ßewusst-
sein die Seele zu suchen, muss demnach ein fehlerhaftes
Beginnen sein.
Nun ist durch die Forschungen auf dem Gebiete des
Spiritismus heute längst für jeden vorurtheilslos Prüfenden
unwiderleglich nachgewiesen, dass in dem Menschen ein
Princip vorhanden sei, welches nicht zugleich mit dem
irdischen Körper und seinem Gehirn zerfällt, das heisst: —
eine „Seele".*) Dass dieselbe mitunter nach dem Tode
noch weiter die Früchte des irdischen Selbstbewusstseins
zeigt, d. h. sich ihrer irdischen Persönlichkeit erinnert,
beweist nicht, dass sie das Selbstbewusstsein ist; denn eine
Seele, als geistiges Princip gefasst, ist ja auch dann vor-
*) Von den philosophischen Unterschieden zwischen Seele und
Geist daif wohl an dieser stelle einmal ahgesehen werden. —
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