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588 Psychische Studien. XXL Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1894.)
handen, wenn das gemeine Selbstbewusstsein fehlt, eine
Thatsache, die man in jedem Irrenhause studiren kann.
Wenn also nun feststeht, dass eine Seele" vorhanden
sei, jedoch ihrem Wesen nach nicht im Selbstbewusstsein
allein gesucht werden müsse, welch letzteres natürlich nicht
ausserhalb derselben liegt, sondern gerade nur durch sie
ermöglicht wird, so müsste eigentlich alle Psychiatrie
[SeelenheilkundeJ sich gerade darauf wenden, dieses
„Uubewusste" in uns (wir bitten aber, es nicht im
v. Hartmann*sehen Sinne zu fassen.) zu erforschen, um von
hier aus den Krankheiten der Seele nahe zu kommen;
denn durch dieses Unbewusste, wie es sieb im Somnambulismus
und in ähnlichen Zuständen zeigt, wird auch
zugleich eine Menge von Erscheinungen des Seelenlebens
erklärt, welclfe jetzt für unerklärbar gelten. Solange die
„Schule" daran festhält, dass Seele und Selbstbewusstsein
identisch sind, und — ganz konsequent —, dass alles Seelenleben
auf Sinr* es Wahrnehmungen gegründet sei, solange ist
sie gezwungen, die Thatbuchen des „Hellsehens", „Hellhörens",
überhaupt der rein psychischen Wahrnehmungen", als
Wahnsinn und Verrücktheit zu behandeln.*) Als ob damit
etwas erklärt wäre, dass man etwas Unerklärliches für
„Wahnsinn" erklärt; denn was ist denn „Wahnsinn" anderes,
als ein Wort — eine leere Phrase!
Das ungefähr waren meine Gedanken, als ich vor kurzem
die Arbeit eines jungen Arztes in die Hand bekam, — es
war eine „Iiiaugural- Dissertation zur Erlangung der
Doctorwürde", — welche den vielversprechenden Titel
führt: — „Ueber den Einfluss der Ohrgeräusche
auf die Entstehung von Hallucinationen von
Fr an» Hanel, approbirtem Arzt in Jena", und die mit
dem Satze anhebt: —
„Vorgänge der Aussenwelt gelangen zu unserer
Kenntniss, kommen uns zum ßewusstsein nur vermittelst
unserer Sinnesorgane.4' — Der Verfasser, dem man fleissige,
gewissenhafte Beobachtung und klare Darstellung nicht
absprechen kann, erläutert sodanu die materielle Grundlage
der Sinnes Wahrnehmung sowie der Erinneiung, erklärt, wie
durch centrifugale Leitung des Sinnesnerven vom Empfindungscentrum
eine Reproduction des Wahrgenommenen als
ein Bild der Phantasie ermöglicht werde, und geht sodann
*) Vergl. „Psych. Studien" Januar-Heft 1877 S. 85 ff. unseren
Artikel: — „Wohin dirigir^n unsere Aeizxe und Zauberkundigen die
sogenannten Besessenen der Neuzeit ?" — Ferner: - „Dr. Forbes Winslorv
über wahnsinnige Spiritualisten und Irrenhauser'1 — daselbst Februar-
Heft 1877 S. 77ff. und S. 79 ff. — Der Sekr. d. Red.
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