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616 Psychische Studien. XXI. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1894.)
Reichel in Berlin, Königgrätzerstrasse 97 wohnhaft, bezeuge
ich Folgendes auf Ehre und Gewissen: — Bei meiner Frau
stellte sich nach dem ersten Wochenbett vor zwölf Jahren
eine Gefühllosigkeit in einem Theil des rechten Oberschenkels
ein. Diese Gefühllosigkeit nahm langsam, aber stetig zu,
und es trat prickelndes Schmerzgefühl auf. Infolge von zwölf
Entbindungen, zum Theil Frühgeburten und schweren
Wochenbetterkrankungen, wurde meine Frau hochgradig
nervös. Vor 1% Jahren begannen furchtbare neuralgische
Schmerzen, die ihr keine Ruhe Hessen, die sich zur Uner-
träglichkeit steigerten, sobald meine Frau s.\ch legte. Sie
wurde Nachts vor Schmerzen ohnmächtig. Schmerzfrei war
sie nie. Der rechte Unterschenkel, in welchem die Schmerzen
vor Allem wütheten, war an der rechten Seite neben und
auf dem Schienbein erheblich geschwollen, voller dicker
Knoten, das ganze Bern verknotet. Der Kopf zeigte äusserst
schmerzhalte Beulen. In den Schläfen bohrte ein unerträglicher
Schmerz. Zu alledem stellte sich, erst in grösseren
Zwischenräumen, dann in immer schnellerer Aufeinanderfolge
eine Kopfkolik ein, die meine Frau mitunter dem Tode nahe
scheinen Hess. Sie magerte zusehends ab, es trat ein
Kräfteverfall ein, eine geistige Benommenheit, die das
Schlimmste befürchten Hess, und — keine Hülfe! Wir
haben hlles Denkbare versucht, selbst die Homöopathie, die
meiner Frau sonst stets wieder geholfen, wenn die Kunst
der Allopathen aufgehört hat, vermochte nichts. Während
sieben Monaten suchte sie schliesslich Heilung in der
Naturli3Üanstalt in der Sebastianstrasse. Jedoch auch hier
nicht nur kein Heilerfolg, sondern die Kräfte Hessen immer
mehr und bedenklich nach.
In dieser trostlosen Lage gab mir der Herr Generalarzt
a. D. Dr. v. Stuckrad den Rath, mich an Herrn Reichel
zu wenden; es würden dort wunderbare Erfolge erzielt. —
Nach einer Behandlung von fünf Monaten ist meine Frau
als geheilt entlassen. — Herr Reichel wollte bei unserem
ersten Besuch über den Zustand meiner Frau nur sehr
wenig hören. Er Hess ihr Inneres durch eine Somnambule
durchschauen und theilte uns beim nächsten Besuche mit,
welche Diagnose gestellt sei. Seine Behandlung bestand
darin, dass er seine Hände über den ganzen Körper vom
Kopfe an streichen Hess. Meine Frau fühlte beim Handauflegen
eine starke Wärmeentwickelung und zunehmende
Müdigkeit. Bei der ersten Sitzung wurden die Schmerzen
aus den kranken Theilen fort in den grossen Zeh' des
Beines gezogen. Einige energische Striche dort, und auch
von dort war der Schmerz verschwunden. Schon nach
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