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620 Psychische Studien, XXL Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1894.)
ausgeschrieben, und die Bewerber wurden aufgefordert, sieh
mit Gesuchen an den Kirchenprovisor zu wenden. Der
Kirchen vorstand musste durch Gemeindewahl verdoppelt
werden, die Wahllisten wurden den Berechtigten zur
Einsicht ausgelegt. Leute, die niemals in die Kirche gingen,
besannen sich nun auf ihre Rechte. Es wurde mit einem
Male Bürgerpflicht, in die zuletzt bei der Konfirmation des
jüngsten Kindes oder bei einer Hochzeit betretene Kirche
zu gehen, gleichsam ausser der Zeit, an einem gewöhnlichen
Sonn- oder Pesttage. Es fanden Vorbesprechungen und
schliesslich die Wahlen statt. Durch ihre Reden in Bürgeroder
Bezirksvereinssitzungen bekannt gewordene Männer
wurden gewählt, auch wohl einige, die sich wirklich zur
Kirche hielten. Es durfte — darüber war man einig —
nur ein Mann äuserkoren werden, der die Aufgaben der
Gegenwart zeitgemäss auffasste und die Gemeinde mit verknöchertem
Dogmenkram zu verschonen willens war. Am
abendlichen Biertische, wo die schwierigsten Gegenstände
erörtert wurden, wurde soviel festgestellt, dass gläubiges
Christenthum ein überwundener Standpunkt und der
Bewerber, der am schnellsten mit allen Ueberlieferungen
fertig geworden sei, der beste sei. Viele kitzelte es, eines
Mannes Herz und Nieren prüfen zu können, dessen
Bildungsgang dem der meisten Wähler weit überlegen war,
und vielleicht von etwa zwanzig Bewerbern einen in eine
erwünschte Lebensstellung zu bringen. Kaufleute, gutsituirte
Handwerker, Volksschullehrer und Rentner bildeten die
Mehrzahl der Wähler, die, selbst über kirchliche oder gar
religiöse Bedürfnisse durch seichtes Geschwätz, irdisches
Wohlbehagen und bestaunte Halbbildung längst hinausgehoben
, für die Menge der wirklichen Kirchenbesucher und
die Hilfs- und Trostbedürftigen einen Mann nach ihrem
Herzen auszusuchen sich nun mit der ganzen Aufklärung
und Menschenkenntniss anschickten, die den unbeirrbaren
Bürger ziert. U. s. w." — Eine köstliche Schilderung —
diese Pfarrwahl, nebst treffender Charakteristik der von
99 Mitbewerbern erlesenen 6 engeren Wahlkandidaten wie
der Wähler. Wenn das aber am gut ausgetrockneten
Bauholze des christlichen Kirchenthums schon so ist, welchen
Glaubens und Zutrauens haben sich da wohl die noch
grünenden Spiritisten unter solchen Wählern und Bewerbern
zu versehen ? Man ist unter diesen Liberalgesinnten längst
wie über das Christenthum mit seinem Auferstehungsglauben,
so auch über den Spiritismus mit seinem ganz selbstverständlichen
Aberglauben an eine geistige Wiederkehr der
Todten hinaus! „Weg damit!" — ist die Gesammt-Parole
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