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Adelheim: Bericht der Frau Hofrath 0. A. Kolbasenko etc. 3
lebendes Wesen, das sich da vor mir befand; es war, wenn
ich mich so ausdrücken darf, das Bild oder die geistige
Oontour eines Menschen. Missmuthig über meine vermeintliche
Nervosität wandte ich mich ab im Glauben, das
Ganze sei ein Bild meiner Phantasie, hervorgerufen durch
meine Nerven, um so mehr, da mein Mann mir früher
einmal davon gesprochen hatte, dass Frauen in dem Zustande
, in dem ich mich damals befand, oft an Nervenzufällen
litten. Nach Verlauf von ungefähr einer Minute
blickte ich wieder auf den Lehnstuhl, und — die selbe
Erscheinung sah mich mit dem nämlichen flehenden Ausdruck
in den Augen an. Ich sprang vom Bette auf und
verliess das Gemach. Nach einigen Minuten kehrte ich
zurück, und zum dritten Male begegnete mein Blick dieser
merkwürdigen Gestalt, dies Mal jedoch, wie sie an der
Wand, wo das Fenster sich befand, gleich einem Schatten
sich langsam forbewegte, bis sie in die Ecke des Zimmers
gelangte, wo sie plötzlich stehen blieb und nach einigen
Augenblicken verschwand.*)
All dies machte natürlich einen höchst unangenehmen
Eindruck auf mich, und ich begab mich eilig in das Zimmer,
wo sich meine Mutter befand. Anfangs war ich gesonnen,
ihr gegenüber nichts von dem Gesehenen verlauten zu
lassen; als ich jedoch nach Verlauf von ungefähr einer
halben Stunde mich in mein Gemach zurückbegeben musste,
um, wie ich mich erinnere, daselbst für meinen Mann die
angefangene Abschrift eines Schriftstückes zu vollenden,
bat ich meine Mutter, mich zu begleiten, und erzählte ihr
den Grund meiner verzeihlichen Furcht, nicht allein mein
Zimmer betreten zu wollen. Meine Mutter schrieb die
Erzählung der Erscheinung meinen „aufgeregten Nerven"
zu. Wir begaben uns nun zusammen in mein Zimmer,
woselbst wir bis zur Rückkehr meines Mannes verblieben,
dem ich dann sogleich von dem, was ich gesehen hatte,
Mittheilung machte, besonders den Eindruck hervorhebend,
den der schmerzliche, flehende Blick des Phantoms auf mich
gemacht hätte. Auch mein Mann sprach von „Hallucina-
tionen", „Phantasiebildern", „autgeregten Nerven" u, s. w.,
so dass nicht weiter mehr davon geredet wurde.
Einige Tage vergingen, und das Erlebte war meinem
Gedächtniss fast entschwunden. Pfingsten war vor der
Thüre. In der Nacht vor dem Pfingstsonntage hatte ich
*) Man vergl. hierzu den Bericht aus dem Lehen einer vielgeprüften
Frau V. ff. aus Eisleben in „Psych. Stud." Märi,- Heft 1894
S. 140 Ü. — Der Sefcr. d. Red.
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