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4 Psychische Studien. XXII. Jahrg 1. Heft. (Januar 1895.)
einen ungewöhnlichen Traum, in welchem ich meine Hände
in Blut wusch, einen Traum, der wegen seiner merkwürdigen
Lebhaftigkeit einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinter-
liess. Ich erzählte diesen Traum meinem Manne.
Gegen 12 Uhr des Pfingstsonntages kam zu meinem
— gerade jourhabenden — Manne ein Quarantänesoldat
mit der Meldung, es sei ein männlicher Leichnam ans
Meeresufer gespült worden. Seiner Pflicht gemäss folgte
mein Mann dem Soldaten an Ort und Stelle und ordnete
die genauere Untersuchung auf die fünfte Nachmittagsstunde
an. Zu dieser festgesetzten Zeit wurde denn auch der Todte
von den beauftragten Polizeibeamten und meinem Manne
besichtigt. Letzterer theilte mir bei seiner Nachhausekunft
mit das Gesicht des Leichnams sei von einer grossen Blase
(wie sie nach Brandwunden entstehen) gleichsam begrenzt,
woraus mein Mann schliessen zu dürfen glaubte, es liege
hier kein zufälliger Unglücksfall vor, sondern der Verdacht
sei berechtigt, der Todte sei das Opfer eines Mörders, der
den Unglücklichen mit dem Gesichte in einen Kessel heissen
Wassers solange unteingetaucht hätte, bis der Tod eingetreten
sei, und, um die Spur des Verbrechens abzulenken, den
Körper ms Meer geworfen habe, um den Anschein zu erwecken
, der Todte sei ertrunken. Den Gesetzen der
Quarantäne-Verwaltung gemäss musste, da mein Mann im
gerichtlichen Protokoll seinen Verdacht angegeben hatte,
der Leichnam in die Anatomie geschafft werden behufs
genauer Feststellung der Todesursache. Am Pfingstmontage
sollte die Autopsie vorgenommen werden, nachdem meiu
Mann der Transportirung des Leichnams am selben Morgen
beigewohnt hatte.
Bevor mein Marin sich zur Secirung des Todten (gegen
Abend) in die Anatomie begab, tranken wir Thee. Plötzlich
kam mir beim Theetische die vor einigen Tagen gehabte
Erscheinung in Erinnerung. Ohne noch im mindesten einen
Zusammenhang zwischen dem Phantom und dem Unglücklichen
, der nach der Ansicht meines Mannes das Opfer
eines Verbrechens war, zu ahnen, wandte ich mich an meinen
Mann mit der Frage: — „Ist der Todte nicht ein Mann
von mehr als Mittelgrösse und breitschultrig?" — „Ja, er
ist gross und hat breite Schultern!" — war die Antwort.
— „Er hat ein breites, rundes Gesicht", — fragte ich weiter,
„dicke Nase und aufgeworfene Lippen, ähnlich dem R . . .n
(einem berühmten Künstler, dessen Photographie wir
besassen) ?" — „So ist es", — erwiderte mein Mann erstaunt.
Mit gesteigertem Interesse fuhr ich fort: — „Grosse, dunkle
Augen?" — „Nach den Augenlidern und der Gesichtsfarbe
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