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410 Psychische Studien. XXII. Jahrg. 9. Heft. (September 1895.)
Vogels in der Luft elastisch ausbalaneirt wird, d. Ii. es wird
die volle Schwerkraft des Thieres mathematisch genau in
elastische Spannkraft des Flügelmaterials umgesetzt, so dass
bei einem schwebenden Vogel ein „bewegliches Gleichgewicht''
eintritt zwischen wirkender Spannkraft und entgegenwirkenden
Widerständen der Schwebebewegung. Die Schwerkraft des
Vogels geht in Spannkraft, die Spannkraft in Bewegung
über. - Sobald nun das Lammgewicht dazu kommt, wird
sofort die Spannkraft des Flügelmaterials um die Schwerkraft
des Lammes grösser, die Winkel der Federflächen werden
zur Horizontalen einen stumpferen Winkel bilden, und der
Vogel sinkt mit seiner Beute um so schneller, je weniger
er mit den Flügeln arbeitet.
Der gelehrte russische Physiologe Dr. Georg Berthenson
griff diese meine Spannungstheorie auf und erkannte, dass
das, was ich das „bewegliche Gleichgewicht" und besonders
die „verticale Spannkraft" des Flügels nenne, ein
mechanisches Grundgesetz der Natur ist, das sie bei allen
Bewegungen von Körpern beobachtet, — auch beim Menseben;
—- auch den Menschen setzt die Natur vor dem Gehen
und Laufen in ein elastisches Gleichgewicht mit der Erdunterlage
. Denn dieser Foischer fand, dass, während wir
einfach auf den Beinen stehen, in unseren Wadenmuskeln
eine Spannkraft wiikt, die gleich ist unserer Schwerkraft,
trotzdem diese Spannkraft uns nicht einmal zum Bewusstsein
gelangt. Die Natur thut dies deshalb, weil man mit einer
ins Gleichgewicht gesetzten Last schon bei geringer Kraft
spielend umgehen kann. Setzen wir z. ß. ein Gewicht
(100 kg) auf eine Federwaage, so kann schon ein Kindesarm
mit dieser Last auf- und abspielen. Aber auch der Mensch
könnte mit seiner Körperlast (75 kg) nicht so spielend umgehen
, wenn er durch die Wadenspannung nicht ausbalaneirt,
also nicht ins Gleichgewicht gesetzt wäre. Ein normaler
Mensch kann im Tanze eine Nacht lang seine 75 kg spielend
auf- und abschwingen, mit hölzernen Unterschenkeln könnte
er das nicht. Die Mechanik lebrt, dass eine Pferdekraft
dazu gehört, 75 kg in einer Secunde einen Meter hochzuheben
, und dass der Mensch nur 4/7 Pferdekraft besitzt!
Nun schleuderte ein Gymnastiker seine 75 kg Gewicbt
in einer halben Secunde 3 Meter hoch über einen lebenden
JElephanten hinweg und leistete damit 6 volle Pferdekräfte,
zeigte sich also 42 mal stärker, als die Wissenschaft ihm
zugesteht. Welch ein scheinbarer Irrthum zwischen Wissenschaft
und Erfahrung! Dieser Irrthum findet eben nur
seine Erklärung in dem elastischen Gleichgewicht, in welches
uns die Wadenspannung versetzt hat, sobald wir uns auf
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