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104 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1896.)
Vorfall, dessen Wahrheit von vielen Zeugen beglaubigt wird.
Die Familie Z.., wohnhaft auf der Marsehalkovskaja Nr. 149,
hatte die Tochter eines Warschauer Steinmetzen, die
16 jährige Marianna G.., als Kinderwärterin gedungen, welche
ihren Dienst Abends antrat, als gerade mehrere Personen
bei Herrn L. . zu Besuch anwesend waren. Von dem
Augenblicke des Erscheinens der Wärterin an begann das
Kind, für welches Marianne gedungen war, und welches bis
dahin sich des bestens Wohlseins und des gesündesten
Schlafes erfreut hatte, ununterbrochen zu weinen, indem es
überdies Zeichen einer ungewöhnlichen Aufregung von sich
gab. Um nun der neuen Wärterin einige Vorschriften in
Betreff dieses Zustandes des Kindes machen zu können,
befahl Herr L. Marianne zu sich ins Arbeitszimmer zu
rufen, wo gleichzeitig noch fünf Personen anwesend waren.
In dem Augenblicke, wo das eingetretene Mädchen in der
Mitte des Zimmers stehen geblieben war, geschah etwas
Unerklärliches: — Eine auf dem Schreibpulte unangezündet
stehende Lampe stürzte unter grossem Geräusche zu Boden;
gleichzeitig fielen von der Wand zwei Bilder herab; einige
Gläser, die auf dem Tische gestanden hatten, lagen zerbrochen
auf der Diele, und ein am Fenster hängendes Thermometer,
das sich mit dem Nagel, an dem es befestigt war, losgerissen
hatte (!)*), flog weithin an das andere Ende des Zimmers.
Die Anwesenden erwarteten nicht anders, als dass im nächsten
Augenblicke das Haus einstürzen würde, und unbeschreiblicher
Schrecken bemächtigte sich ihrer. Der Hausherr, ein
gebildeter und verhältnissmassig kaltblütiger Mann, war der
erste, der wieder zu sich kam, und nachdem es ihm gelungen
war, seine Gäste nach Möglichkeit wieder zu beruhigen,
begann er sofort dieses räthselhafte Vorkommniss einer
genauen Untersuchung zu unterwerfen, wobei er sein Hauptaugenmerk
vor allem auf die Person des Kindermädchens
richtete. Es erwies sich, dass Marianne G.ein Mädchen von
vorzüglichem Character und Aufführung, an Blutarmuth,
Hallucinationen und Schlaflosigkeit leidet. Während ihrer
vorhergehenden Dienstzeit wurden zu wiederholten Malen
verschiedenartige, ungewöhnliche Erscheinungen beobachtet,
deren Ursache und Bedeutung Niemand zu erklären
vermochte. Die Einzelheiten des oben erzählten Vorganges
wurden nebst den beigefügten genauen Adressen der Zeugen
dem Professor Dr. Ochorowicz behufs geeigneter, wissenschaftlicher
Untersuchung mitgetheilt. (Entnommen dem „Shisn i
Iskusstwo" Nr. 350 v. 30. Dezember 1895.)
*) Dies Ausrufungszeichen befindet sich in dem Kiewer Zeitungsblatte
, aus dem ich vorliegenden Bericht übersetzt habe. — A. A.
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