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238 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1896.)
Werkeltagsleben ist seit einigen Wochen eine ganz merkwürdige
Abwechselung gekommen. Unter die Lastwagen
mischen sich häufig und häufiger elegante Equipagen, auf
die fluchenden Rollkutscher blickt mit geringschätziger
Gelassenheit sein „herrschaftlicher" College, in der Menge
der hastigen Pussgänger unterscheidet man ein ruhigeres,
nicht diesem Stadtviertel noch auch seinen Berufskreisen
angehöriges Element, geistliche Herren, Cavaliere jeden
Alters und vornehme ältere Damen. Alle diese Besucher
aus Paris W lenken den Schritt zu einem bestimmten
Hause und in diesem zu einei bestimmten Pnvatwohnung im
zweiten Stock. Zu gewissen Tagesstunden ist ihr Andrang
so stark, dass sie die Treppe füllen und bis in den Thorweg
hinunter Queue bilden. Was lockt sie dort an? Zu wem
gehen sie? Zu Herrn Couesnon, einem ehemal Advokaten,
der dort in bescheidener Behäbigkeit als Rentner lebt. Und
warum ? Um die Stimme des Erzengels Gabriel zu vernehmen.
Bitte, nicht zu lachen. Die Sache ist völlig ernst, wenigstens
wird sie von allen Betheiligten ernst genommen. Es ist
das Pariser Tagesereigniss! Erinnern Sie sich, dass ich
vor etwa vierzehn Tagen von einer Hellseherin sprach,
die ein Reporter der „Libre Parole" entdeckt haben wollte ?
Dem Mitarbeiter Drumonfs sind die Redacteure der meisten
Boulevardblätter gefolgt, der „Figaro" kündigt für einen
der nächsten Tage einen Sensationsartikel an, den er im
Voraus als „Interview des Erzengels Gabriel" (sie!) bezeichnet,
und der „Temps", das republikanische skeptische Abendblatt,
ist bereits heute in der Lage, uns die Hellseherin in der
Rue de Paradis zu schildern, durch deren Mund der
bezeichnete Erzengel diesen Vormittag zu seinem Berichterstatter
redete. Die Hellseherin ist nämlich Fräulein
Couesnon, die Tochter des ehemaligen Advokaten, eine
hübsche, grossäugige Brünette von etwa 23 Jahren, die laut
Zeugniss der Aerzte keineswegs hysterisch oder nervös sein,
sondern sich der blühendsten Gesundheit erfreuen soll.
Uebrigens erklären alle Personen, welche die junge Dame
im Zustande der Ekstase beobachteten ? das Epitheton „Hellseherin
" als ihrer nicht würdig. Man versichert, sie sei
eine echte und rechte „Seherin", und man ist
geneigt, sie für eine zweite „Jeanne d'Arc" zu halten.
Indess, hören wir, was der „Temps" von ihr zu melden
weiss: — „Am 5. August 1894", — so erzählte Fräulein
Couesnon mit schlichter Unbefangenheit dem Redacteur des
grossen Boulevardblattes, — „am 5. August 1894 hatte ich
meine erste Exstase, welche mehrere Stunden andauerte
und mich um 11 Uhr Vormittags überraschte, gerade als
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