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286 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 6, Heft. (Juni 1896.)
unlängst ein junger ungarischer Kaufmann und wurde von
einer aus vier Köpfen bestehenden ßauernfamilie eingeladen,
bei ihr über Nacht zu bleiben. Während der Nacht, als
der Kaufmann fest schlief, überfiel ibn die ganze Familie
plötzlich und erdrosselte ihn. Sodann schleppten die Verbrecher
die Leiche aus dem Hause und warfen sie in einen
benachbarten Sumpf. Da das Verschwinden des Kaufmanns
kein Aufsehen erregte, so wäre der Mord vielleicht nie
aufgedeckt worden, wenn die Verbrecher die Sache nicht
selbst zur Anzeige gebracht hätten. Sie erschienen eines
schönen Morgens alle vier bei der Polizei und meldeten
das Vorgefallene, wobei sie angaben, dass der Geist des
Ermordeten ihnen die ganze Zeit her keine Ruhe
gelassen habe und ihnen jede Nacht erschienen sei. Dieser
Umstand hatte sie veranlasst, sich selbst den Gerichten
auszuliefern." — Jedenfalls ist dem einstimmigen Zeugniss
der vier Mörder, dass der Geist des Ermordeten sie
beunruhigt habe, mehr Glauben zu schenken, als der folgenden
abstracten Erklärung des Mittheilers, dass ihr blosses
Gewissen sie zur Selbstanzeige getrieben habe. Wäre ibr
Gewissen wirklich so zartfühlend gewesen, so hätten sie die
That gewiss nicht begangen. Wie viele Morde werden trotz
des schlagenden Gewissens, das sich in Jedem regt, verheimlicht
! Die Entgegnung, dass viele Mörder ihre That
doch auch aus beunruhigten Gewissen zur Selbstanzeige
bringen, schliesst die Erklärung einer gleichzeitigen
Beunruhigung und Verstörung des Gewissens durch die
Geister der Ermordeten nicht aus. Und wo diese in vielen
Fällen nicht so stark auf Gemüth und Gewissen der
Uebelthäter einzuwirken scheinen, dass Selbstanzeige eintritt,
kann die Erklärung in einer höheren Rücksichtnahme auf
die weiteren Verhältnisse derselben liegen. Gott allein weiss
es, warum. Ihm entgeht ja doch kein Verbrechen, seine
Waage ist gerechter als die aller irdischen Richter.
e) Zu Frauenstein im sächsischen Erzgebirge lebte
vor einigen Jahrhunderten ein Bürgermeister, welcher die
seltsame Angewohnheit hatte, seinen Versicherungen häufig
die bestärkende Erklärung beizufügen, dass für jede unausgesprochene
Unwahrheit der Gottseibeiuns „ihn an der Nase
fassen möge", eine Aufforderung, die um so gewagter war,
weil der Oonsul sich eines ungewöhnlich grossen Riechorgans
erfreute. Man kann sich also den Schreck des
Bürgermeisters denken, als der Satan ihm einst wirklich
einen nächtlichen Besuch abstattete. Der alte Chronist
berichtet darüber buchstäblich wie folgt: — „Und alss der
Borgemeister, so ein alter Junggesell gewessen, auf einige
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