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352 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 7. Heft, (Juli 1896.)
Gegend. Während die Angelegenheit von einer Seite ver-
dientermaassen(?) als Humbug bezeichnet wird, glaubt ein
anderer Theil, dass die Geschichte wirklich wunderbar ist.
Der „Br. L. Ztg." wird über diesen angeblichen Wunderknaben
folgendes geschrieben: — „Im Dorfe Sievershausen
im Sollinge, dreiviertel Stunden von Dassel, leidet der
zwölfjährige Sohn eines Tischlers seit fast einem halben
Jahre an einer Krankheit, die sich in häufig wiederkehrenden
heftigen Krämpfen äussert, welche den Korper des Kindes
erschüttern und sehr angreifen. In hellen und kampffreien
Augenblicken soll nun der Knabe die Gabe besitzen, den
ihm vorgeführten Personen, auch denen, die er im Leben
nie gesehen hat, und die ihm nicht bekannt sein können, die
Schicksale ihrer Vergangenheit und ihre wichtigsten Erlebnisse
zu sagen und auch von der Zukunft kund zu thun.
In der ersten Zeit soll er auch die augenblicklichen Gedanken
der ihm vorgeführten Personen ,gelesen* und ihnen vorgesagt
haben; doch ist diese Kraft jetzt wieder verschwunden.
Viele Hunderte von Personen, oft aus weiter Ferne, sind
schon nach Sievershausen gewandert und pilgern noch dahin,
um den Wunderknaben zu sehen und sich von ihm die
Schicksale sagen zu lassen. Der Hergang ist dabei etwa
folgender: — Der Fremde wird vor den Knaben geführt
und muss zunächst ein Zehn- oder Zwanzigpfennigstück so
lange in der Hand halten, bis dieses erwärmt ist. Dieses
Geldstück legt der Knabe dann auf einen Finger der linken
Hand, betrachtet es durch ein 20—30 Centimeter langes
Röhrchen und liest dann gleichsam von dem Geldstücke die
Lebensschicksale aus der Vergangenheit des Betreffenden
ab.*) Sehr oft setzt er dann mit „hellem" Blick etwas
von der Zukunft hinzu. Meistens geben die Fremden dem
Knaben dann für seine Mühe ein Geschenk. Der Knabe
soll auf diese Weise schon ein schönes Stück Geld erworben
haben. — Schreiber dieses sprach in diesen Tagen mit einem
glaubwürdigen Manne, der auch aus Neugierde den fast
20 Kilometer weiten Weg nach Sievershausen gemacht hatte,
um zu erfahren, was an der Sache sei. Zugleich hatte er
dabei den praktischen Zweck gehabt, durch den Knaben
zu erforschen, wer der Dieb sei, der vor etwa einem halben
Jahre ihm mittelst Einbruchs eine grössere Geldsumme
gestohlen habe, aber seither noch nicht entdeckt ist. Von
dem Diebstahle habe aber der Knabe nichts erwähnt.
*) Das ist doch ganz ähnlich, wie das Verfahren des Wunder«
schafers Ast s. „Psych. Stud." September-Heft 1895 S. 414 und October
1895 S. 464. — Der Sekr. d. Eed.
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