http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1896/0422
412 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 8. Heft. (August 1896.)
Augen ein eigenartiges Phantom: — ein paar lange,
auffallend schmale Hände, die wie Nebel durchsichtig waren,
die Daumen einander zugekehrt und mit einem hellen,
leuchtenden Rande um jeden einzelnen Finger. Eigentlich
sah meine Frau nur anderthalb Hände, da sie nur mit dem
einen Auge sehen konnte. Als sie endlich auch das andere
Auge aufbrachte, schwand das Phantom, die Lähmung löste
sich, meine Frau ächzte tief und schwer auf, ich sprang
erschrocken an's Bett, — aber da war schon Alles vorüber,
und sie erzählte mir, nachdem sie sich etwas erholt, wieder
völlig ruhig und ohne Aufregung das gehabte Ereigniss,
indem sie sofort die feste Ueberzeugung aussprach, das
seien die Hände ihrer verstorbenen Mutter gewesen. — Der
Skeptiker wird nun schnell eine Erklärung bei der Hand
haben: — Herzanfall oder gar „Alpdrücken" mit dadurch
ausgelöster Hallucination. Dem gegenüber ist nun das
Merkwürdige, dass meine Frau gerade im Angesicht des
Phantoms von einer geradezu wunderbaren und wohlthuenden
Ruhe beseelt war, dass die bei einem Herzanfall stets
quälenden Angstgefühle vollständig schwiegen, ja dass meine
Frau bei einem Minimum von Herz- und Lungenthätigkeit
im Stande war, ruhig das Phantom zu beobachten; dass
ferner die zu einer Hallucination doch unumgänglich notwendige
Animirung der Vorstellungskraft gänzlich fehlte.
Denn nicht nur, dass jenes Erlebniss vor die Zeit unserer
näheren Bekanntschaft mit den so mannigfachen Phänomenen
des Occultismus fällt, meine Frau ist sich noch heute voll
bewusst, dass sie weder vor, noch in jenem Zustande an
irgend etwas Bestimmtes, auf keinen Fall aber an ihre seit
vielen Jahren verstorbene Mutter gedacht habe. Die eigenartige
Formation des Phantoms, — die Mutter meiner Frau
hatte im Leben auffallend lange, schmale, ja magere Hände,
sogenannte „Spinnenfinger44, wie der Volksmund sie etwas
unzart nennt, — die brachten die Gedanken an die verstorbene
Mutter, nicht umgekehrt das Denken an die Mutter
das Phantom hervor. Der Animismus giebt in diesem Falle
gar keine plausible Erklärung her. Wenn man also nicht
einfach ein spontan auftretendes Hellsehen annehmen will
ohne ernsteren Hintergrund, welche Erklärung allerdings,
wenn man den damaligen Zustand meiner Frau bedenkt,
doch etwas gezwungen sein dürfte, so wird schliesslich als
einfachste Erklärung wohl nichts übrig bleiben, als die
Frage zu stellen, die im Titel dieses Berichtes sich ausgesprochen
findet. Wildbad, Juni 1896. Oskar dlummert.
o) Der ermordete Marquis de Mores erhielt
durch ein Pariser Medium seinen baldigen Tod
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1896/0422