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496 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 10. Heft. (October 1896.)
werde. Es ist ja wahrlich eine Schmach für unsere hohe
Cultur, dass die weisesten und edelsten Menschen nur
fortwährend einander bekämpfen; dass sie sich über nichts
einigen können; dass fortwährend die wichtigsten, offenbarsten
Wahrheiten geleugnet oder unbeachtet gelassen, und ganz
falsche, schädliche Lehren verbreitet werden dürfen. Es ist
das nicht blos mit den neuen, nach allen Berichten hochgebildeter
und sehr glaubwürdiger Personen grossartigen,
wunderbaren und ausserordentlich wichtigen sogenannten
spiritistischen Wahrheiten der Fall; auch über den Geist,
das Fortleben, die Aufgabe des Lebens, den Glauben, die
Veredelung, die Vollkommenheit und andere sehr wichtige
Fragen herrschen heute noch überall verschiedene und
natürlich auch ganz falsche, unvernünftige Anschauungen,
und bekämpfen einander die Lehrer und Anhänget derselben
auPs äusserste. Während z. ß. viele hochgebildete Denker
auf die ethische Veredelung der Menschen das grösste
Gewicht legen, leugnen andere, dass sich überhaupt eine
allgemein zu beachtende Moral befriedigend begründen
lasse. Ebenso traurig steht es bei uns mit der Religion.
Keine der verbreiteten Religionen wird von allen geistig
höheren, edleren Menschen anerkannt, und jede wird von
den Lehrern der anderen als falsch erklärt. Die trostlose
materialistische Weltanschauung verbreitet sich immer
mehr in allen Kreisen, selbst unter den sogenannten Gläubigen,
und doch giebt es so viele gelehrte und hochbegabte
Denker, welche die spiritualistische Hypothese als allein
wissenschaftlich berechtigt erklären, und Millionen gebildete,
vernünftigere Menschen behaupten, die sichersten Beweise
für das Fortleben des Geistes erhalten zu haben.
Die Menschen sind aber trotz ihrer Lebenslust und
Genuszsucht durchaus nicht einer besseren Belehrung unzugänglich
und gleichgiltig für die Erkenntniss der Wahrheit,
sondern sie wissen bei der herrschenden Ungewissheit nur
nicht, was sie glauben sollen.
Die aufgeklärte Menschheit lechzt nach Erkenntniss der
Wahrheit in unseren grossen, wichtigsten Fragen.
Dass es überaus wünschenswerth und für das Wohl der
Menschheit dringend nothwendig wäre, in allen wichtigen
Fragen die einzig vernunftgemässe, beachtenswerthe Anschauung
unzweifelhaft festzustellen, wird wohl Niemand
leugnen; die wenigsten werden es aber für möglich halten,
dieses schöne Ziel zu erreichen. Ich hoffe aber jeden, der
die folgenden Auführungen vorurtheilsfrei durchliest und
alles tiefer durchdenkt, zu überzeugen, dass es heute ganz
wohl möglich ist, die meisten und wichtigsten Fragen end-
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