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Wihan: Wahrheit über alles! 499
aber ganz unpassenden Entgegnung abgefertigt, und Niemand
wagt es mehr, die allgemein als competent angesehenen
Schwätzer zu tadeln, dass sie eine wichtige Wahrheit
unbeachtet gelassen haben, wenn auch dadurch eine ganz
falsche Anschauung zur Verbreitung und Geltung gelangt.
Wenn man die Wahrheit, d. h. die allein vernunftgemässe
und beachtenswerthe Anschauung, in einer .Frage erkennen
will, so müssen deshalb alle Denker zusammenwirken, und
es muss jede unanfechtbare Behauptung, mag sie von wem
immer stammen, beachtet, und jeder Fehler im Denken
muss beanstandet und unschädlich gemacht werden. Man darf
von einem Satze nicht früher zu einem anderen übergehen,
als bis man feststellen kann, dass alle Einwendungen dagegen
entkräftet, und dass keine anderen mehr erhoben worden
sind. Auf diese Art würde jede Unvernunft und Unredlichkeit
ganz unzweifelhaft vor der ganzen gebildeten Welt
enthüllt, und da müssten doch besonders Männer von Ruf
und Ansehen vorsichtiger sein und lieber schweigen, wenn
sie nichts Vernünftiges zu bemerken im Stande wären. So
würden auf eine sehr einfache Art alle in einer Frage
incompetenten Elemente eliminirt, und es würde sich jeder
begabte Denker Gehör verschaffen. Da würden gewiss ohne
allen Streit, ohne Parteilichkeit, Schreien und Schimpfen
viele wichtige Fragen unzweifelhaft und endgiltig entschieden
werden können. Da würden keinerlei Umtriebe etwas nützen.
Wenn eine Behauptung nicht widerlegt, entkräftet, als falsch
oder unvernünftig erwiesen werden könnte, müsste sie in
den Codex unanfechtbarer Wahrheiten aufgenommen werden
und solange als unanfechtbar gelten, als sie nicht entkräftet
werden könnte. So wäre für alle Zeiten ein Areopag
geschaffen, dessen Autorität bald in der ganzen Welt
anerkannt würde; da ja jeder Denker ohne Unterschied
bei der Entscheidung einer Frage mitwirken könnte und
würde.
Die Einwendung, dass man also doch nicht von der
Unanfechtbarkeit der codificirten Sätze überzeugt sein
könnte, da es ja möglich wäre, dass viele derselben nachträglich
entkräftet werden, ist ganz unberechtigt; denn es
handelt sich ja hauptsächlich um die Feststellung von
Grundwahrheiten, und das sind durchweg so selbstverständlich
richtige Behauptungen, dass jeder gebildete Denker
sofort die Unmöglichkeit einer Entkräftung derselben einsehen
muss. Ausserdem giebt es ja, wie gesagt, auch hypothetische
Wahrheiten, und man kann also auch in unbestimmten
Fragen ganz unanfechtbar richtige Behauptungen aufstellen,
welche nicht aufhören richtig zu sein, wenn man auch durch
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