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506 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 10. Heft. (October 1896.)
scheinungen zu erkennen, nicht nur, weil wir äurch
diese Erkenntmss in den Stand gesetzt werden, immer
mehr Neues zu schaffen und unser Dasein zu verschönern
, sondern weil wir ein Bedürfniss nach Erkennt-
niss haben. Um verschiedene Erscheinungen zu erklären,
stellen wir Annahmen, Hypothesen auf; und nur
die höhere Vernunft, der besonders begabte und höher
gebildete Mensch ist im Stande, zu erkennen, ob eine
Annahme berechtigt, allein berechtigt, oder
nicht berechtigt ist. Eine Annahme, welche so
beschaffen ist, dass die auf Grund derselben vorausgesagten
Erscheinungen stets pünktlich eintreffen,
dürfen und müssen wir als der Wirklichkeit entsprechend
ansehen. Ebenso dürfen und müssen wir behaupten,
dass etwas in Wirklichkeit so ist, wie wir es uns
vorstellen, wenn wir uns auch durch die Erfahrung
davon nicht überzeugen können, falls wir einsehen, dass
es unter keiner erlaubten Annahme anders sein
kann. Wenn wir unter keiner Annahme begreifen
können, wie etwas unter gewissen Umständen sein oder
geschehen könnte, und wenn es auch in der Erfahrung
nirgends gegeben ist, so dürfen wir es als unmöglich
bezeichnen.
9) Etwas als möglich erklären, heisst noch nicht, es
annehmen oder glauben. Als möglich müssen
wir alles erklären, was nicht einer bekannten Thatsache
oder einer als einzig berechtigt erkannten Annahme
widerspricht; d.h. wodurch diese nicht als unmöglich,
oder ganz undenkbar erscheint. Annehmen,
glauben dürfen wir aber nur dasjenige, wodurch eine
Erscheinung besser begreiflich wird, als durch jede
andere Annahme. Als unmöglich dürfen wir etwas
nur unter gewissen Bedingungen erklären, und dass
irgend etwas, was wir uns denken, wirklich ist oder
geschieht, darf nicht als unmöglich angesehen werden.
Manches kann uns auch nur deshalb unmöglich, oder
als ein Wunder erscheinen, weil wir nicht alle Naturgesetze
kennen.
Wir dürfen also annehmen, dass die Erscheinungen
wenigstens für die nächste Zukunft stets nach denselben
Gesetzen erfolgen werden; aber es ist möglich, dass diese
Gesetze nicht für alle Zukunft und für alle Welten gelten.
Nur wenn es keine höheren Wesen giebt, die in die Welt
der Erscheinungen eingreifen können; wenn diese Gesetze
ohne Anfang bestehen, ist es undenkbar oder unmöglich,
dass sie je aufhören könnten, zu gelten. Dass es aber höhere,
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