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I
530 Psychische Studien. XXUI. Jahrg. 11. Heft. (November 1896.)
Den Alten1) war das „Siebdrehen" etwas allbekanntes.
Es führte bei ihnen den Namen xoöxivoftdvreia, coscino-
mantia (von xoöxivov Sieb, (lavrela Wahrsagung). „Die
Kunst des xoaxcv6(iavTLg oder Siebpropheten bestand darin,
aus den Kreisbewegungen eines an einem Faden aufgehängten
und in drehende Bewegung gesetzten Siebes zu wahrsagen.
Man bediente sich dieser Art von Mantik besonders, um
den Thäter von Diebstählen, und um den Grad von Zuneigung
einer geliebten Person zu erfahren."2)
So erwähnt es z. B. Artemidorus Daldianus3) gelegentlich
in seinem „Onirocriton", — ohne im übrigen auf das Wort
näher einzugehen, so auch der Grammatiker Julius Pollux 4)
in seinem „Onomastikon"; des ferneren der „Heine des
Alterthums", der witzige Lucianf) der Spötter. Das älteste
diesbezügliche Zeugniss rührt aber wohl yon Theocrit6) her,
dem syrakusanischen Dichter, der ca. 300 v. Chr. lebte. Nach
ihm gingen die jungen griechischen Backfische damals in
denselben intimen Herzensangelegenheiten zu den alten Siebwahrsagerinnen
, wie sie heute aus ähnlichen Gründen sich
von einer alten Tante die Karten legen lassen. So seufzt
denn eine junge Griechin: —
„Wahr auch sagte die Gröo, die Siebprophetin, und jüngst noch,
Zaubernde Kräuter erspähend, Paräbatis, dass Dir mein ganzes
Herz anhängt, Du aber im mindesten meiner nicht achtest". —
Die Stürme der Völkerwanderung vermochten nicht,
diesen in der unergründlichen Tiefe der Volksseele
schlummernden Brauch zu entwurzeln. Im frühen Mittelalter
sehen wir ihn plötzlich auf deutschem Boden wieder
emportauchen. Grimm1) schreibt darüber: —
„Von diesem Begriff (des Gottesurtheils) unterscheidet
sich also das seit dem Mittelalter gebräuchliche Sieb-
treiben oder Siebdrehen, welches durch weise Frauen,
oder Hexen und Zauberer, aber auch durch ehrliche Leute
geübt wurde, um einen verborgenen Uebelthäter herauszufinden
: — das Weib fasste ein Erbsieb zwischen ihre
beiden Mittelfinger, sprach eine Formel aus und nannte nun
die Namen der Verdächtigen her; — bei dem des Thäters
fing das Sieb an, sich zu schwingen und umzu-
!) Tellurismus v. D. G. Kieser 1822 I. S. 168. —
2) Reai-Encyklopädie der klassischen Alterthumswissenschaft von
August Pauly. 1842. 2. Bd. S. 726. —
3) Onirocriton; II, 69. —
*) Onomastikon 7. (188). —
5) I, 753, (nach Grimm). —
6) Gedichte. III. Idylle 31. üebersetzt von Voss. —
7) Deutsche Mythologie von Jacob Grimm. II. Bd. 1844 —
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