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566 Psychische Studien. XXIII. Jahrg. 11. Heft. (November 1896.)
Tochter in seinem Hause Tannenzapfenspiritus zum Einreiben
der Glieder verordnet und sie damit geheilt habe,
was drei Aerzten vorher nicht gelungen sei. Der junge
Götter zieht alle den Angeklagten belastenden Zeugenaussagen
in Abrede und wird während der Verhandlung auf
Befehl des Staatsanwalts wegen Meineids festgenommen, da
er darauf beharrt, in seinem Hause sei nie etwas Abergläubisches
oder eine Heilung vorgenommen worden.
Eine Schneiderswittwe, die an heftigen Krampfanfällen
litt, wurde vor etwa zwölf Jahren von den, Angeklagten
„eingesegnet"; sie sei dabei bewusstlos geworden und
habe später erfahren, der „Belsener" habe einige Verse
über sie gesprochen und ihr eine Schnur um den Hals
gebunden, die später ein Weib aufgeschnitten und ins
Feuer geworfen habe. Einem von dem Angeklagten
behandelten jungen Burschen habe es vor der „Einsegnung"
so gegraust, dass er sich gern an einen Baum aufgehängt
hätte. — Einen ganz eigenthümlichen Eindruck machte die
23jährige Rosine Götter, weiche (wie auch nachher ihre
14jährige Schwester Christine und die Maria Werner) die
Eidesformel im feierlichen Ton der Beschwörungen mit
besonderer Betonung jeder Endsilbe nachsprach und fast
alle an sie gerichteten Fragen mit einem pathetischen
„Nein!" beantwortete. Sie will vom Arzt in Münsingen
gesund gemacht worden sein und den Angeklagten nur
einmal mit ihrem Vater am Bahnhof gesehen haben; alle
gegentbeiligen Aussagen der Belastungszeugen seien die
„reine Unwahrheit." Die anderen Mädchen seien ihr bös,
weil sie sich während ihrer Krankheit über das Schiessen
ihrer Brüder beschwert habe. Der Staatsanwalt beantragt,
den Angeklagten aus dem Gerichtssaale zu entfernen, da
die Zeugin offenbar formlich unter dem Banne seiner Augen
stehe; da sie aber auch nachher auf ihren Angaben beharrt,
erklärt er, von ihrer Festnahme wegen Meineids nur deshalb
abzusehen, weil er sie für eine hysterische, durch den
Einfluss des Angeklagten nahezu geisteskrank gemachte
Person halte. Die 14 jährige Christine Gotter, welche Zeugen
einmal Abends aus dem Hause des jungen Gotter in das
des alten zu Speidel tragen sahen, bestreitet auch dies aufs
entschiedenste und versichert, der „Heiland" habe sie wieder
gesund gemacht.
Nach Schluss der Beweisaufnahme werden den Geschworenen
drei Fragen vorgelegt: — 1) hat sich der Angeklagte
eines Meineids schuldig gemacht; 2) konnte die
Angabe der Wahrheit für ihn eine Verfolgung wegen eines
Verbrechens oder Vergehens nach sich ziehen; 3) hat der-
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