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Schupp: Wahrtraum oder Insohauen?
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zu Tag. Es meldete sich ein Universitätsprofessor, welcher
schreibt: —
„Es handelt sich um einen sogenannten Wahrtraum.
Eine Erklärung dafür vermag ich nicht zu geben, wohl aber
bitte ich um die Erlaubniss, einen ähnlichen Fall zu erzählen
, der in meiner Familie vorgekommen ist. Vor einigen
Jahren war ich um die Osterzeit in Italien und hatte
meiner Frau, die um diese Zeit sich des Besuches einer
Schwester erfreute, den Zeitpunkt meiner Rückkehr angegeben
. Ich fuhr jedoch schon geraume Zeit — acht oder
zehn Tage — vor diesem angegebenen Zeitpunkt nach
Hause, und zwar aus dem sehr prosaischen Grunde, weil
ich Tage lang von den heftigsten Zahnschmerzen geplagt
wurde und der Kunst der italienischen Herren Dentisten
misstraute. Ohne irgend welche vorherige Ankündigung traf
ich hier ein und gedachte meine Frau zu überraschen. Aber
die Ueberraschung wurde mir selbst zu Theil! TJeber der
Thür zu meiner Wohnung hing ein bekränztes Schild mit
der Aufschrift: — „Willkommen" —; meine Frau und
Schwägerin hatten den Besuch eines Goncertes, für das sie
bereits Billets besassen, aufgegeben und erwarteten mich zu
Hause; meine Lieblingsspeisen waren bereitet; kurzum: —
meine Ankunft war thatsächlich bekannt gewesen, und zwar,
wie die Damen und die langjährige Dienerin einhellig bezeugten
, weil — meine Frau die Nacht vorher geträumt
hatte, ich würde an dem betreffenden Tage zurückkehren!
— Was den zweiten Theil der Mittheilung Ihres Gewährsmannes
angeht, die Vision, so erinnere ich an die bekannte
Stelle in Goethe^*) — „Wahrheit und Dichtung", — die ein
frappantes Gegenstück dazu bietet. Vor seiner Abreise von
Strassburg ritt Goethe bekanntlich noch einmal nach Sesen-
heim, um von Friederike Brion Abschied zu nehmen. Hierüber
schreibt er: — ,In solchem Drang und Verwirrung konnte
ich doch nicht unterlassen, Friederiken noch einmal zu sehen.
Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben
ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte,
standen ihr die Thränen in den Augen, und mir war sehr
übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fusspfade gegen
Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten
Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des
Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg
zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem
*) Man sehe hierzu noch eine Stelle Goethe'* über die Fähigkeit
des Hellsehens und verwandte Kräfte in „Psych. Stud." Januar-Heft
1878 S. 82 ff. — Ferner S. 673 und S. 685 dieses Heftes. —
Der Sekr. d. Red.
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