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Reich: Das Uehersinnliohe.
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zu ermitteln und zu Zwecken der Erkenntniss einerseits,
der Vervollkommenung andererseits, nutzbar zu machen.
Nicht blos dort ist die Wahrheit zu suchen, woselbst
mit den Hülfsmitteln des Verstandes gearbeitet wird, sondern
auch dort, woselbst das Gefühl in seinem ganzen Leben und
Weben in Betrachtung kommt. Da nun kein Gedanke
auftaucht, ohne ein Gefühl zu wecken, und kein Gefühl
auftaucht, ohne einen Gedanken zu wecken, so wird es
begreiflich, dass bei Ableitung einer Weltanschauung aus
den ermittelten Wahrheiten, und bei Lebensgestaltung aus
der gewonnenen Weltanschauung, Philosophie und Religion
zugleich den Willen in Bewegung setzen werden.
Auf einem gewissen höheren Standpunkte der Ent-
wickelung angekommen, fliessen Weltweisheit und Religion
wieder einheitlich zusammen, und diese ihre Einheit vermittelt
die Annäherung an die sogenannte transscendentale
Welt und deren mögliches Erkennen.
Nur indem das Bewusstsein und die Gewissheit einer *
übersinnlichen oder transscendentalen Welt festgehalten,
genährt und gekräftigt wird, werden Endziele des Daseins
sichtbar, bekommen Wissenschaft, Kunst und Gesittung den
rechten Inhalt, Staat und Familie gesunden Kern, und
erfüllt die Kirche ihre wahre und eigentliche Bestimmung.
§ 6. Der Kosmos ist ein untheilbares Ganzes. Von
einem den menschlichen weit überragenden Standpunkt aus
kann derselbe niemals in eine reale und transscendentale
Welt geschieden werden. Diese Scheidung machen blos
menschliche und sonstige Planetenwürmer in ihrer jammervollen
Beschränktheit, Schwäche und Einseitigkeit. Dieses
Elend drückt uns nieder. Aber, es ist nicht abwendbar;
denn es ist nothwendige Folge unserer stofflichen Organisation
und deren niederer Stufe der Entwickelung. Deshalb
müssen wir damit rechnen. Und darum beschäftigen wir
uns zunächst mit der Frage des für uns Transscendentalen.
Gott hat zwei Weltsubstanzen gesetzt: die psychische
oder magische, und die physische. Die Erstere können wir
uns, so lange unsere Seele einen stofflichen Leib bildet,
nicht vorstellen. Wir erschliessen aus allen bisher bekannt
gewordenen Thatsachen, dass die magische Weltsubstanz
individualisirt sei, demnach aus abgeschlossenen Individuen
besteht, die wir mit dem Namen von Seelen bezeichnen.
Die Seele wahrzunehmen, sind wir ausser stände; wir können
ihr Dasein nur erschliessen, allerdings mit voller Gewissheit.
Demnach ist die Seele für uns transscendental.
Allein auch die physische Weltsubstanz ist nicht in
allen ihren Modifikationen von den Wesen mit stofflichem
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