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80 Psychische Studien. XXIV. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1897.)
der Kirche ist ein immer machtloser werdendes Palliativ.
Die einzige Bettung besteht in der Erfüllung der socialen
Pflichten, welche vor allen dahin lauten, dass jede Industrie
oder Beschäftigung, die den Menschen zum Märtyrer macht,
gesetzlich unterdrückt werden muss, da es weder ein natürliches
, noch ein göttliches Gesetz giebt, das verlangen würde,
dass die Einen leiden müssen, damit die Anderen gemessen
können. Es giebt auch keine Industrie, die nicht unter
dem hygienischen Gesichtspunkt verbessert werden könnte.
Statt Unsummen von Geld für kulturwidrige Militärzwecke
auszugeben, sollte hier Abhilfe geschaffen werden; sie würde
den unschätzbaren Werth haben, den zunehmenden Hass
zwischen Kapital und Arbeit zu vermindern. — Die fieberhafte
Sucht, sich zu bereichern, und die diabolische Kunst,
zu tödten, ist von Europa aus bereits zu den Völkern des
fernsten Ostens verpflanzt worden; sie werden uns eines
Tages den Markt von Afrika nehmen und Europa selbst
überschwemmen, wie es Amerika und Australien mit ihrem
Getreide, ihrem Fleisch, ihrer Wolle u. s. w. bereits thun.
Wäre es nicht an der Zeit, dass die grossen europäischen
Kulturstaaten, vor allem Frankreich und Deutschland, sich
die Hand zu friedlichem Zusammenarbeiten reichten, um
diese drohenden Gefahren abzuwenden?
An Stelle der biblischen Legende, welche das Leiden
und das Uebel zu heiligen suchte, ist aber der in seinen
Consequenzen noch grausamere „Kampf um's Dasein" des
als wissenschaftliches Dogma gelehrten Darwinismus getreten,
der dem Grundsatz: — „Gewalt geht vor Recht" und „der
Stärkste gewinnt", — eine wissenschaftliche Weihe zu geben
scheint. Verfasser sucht nun in den folgenden Kapiteln die
Schlussfolgerungen, welche weniger der Meister selbst, als
übereifrige Schüler aus diesem „neuen Glauben" gezogen
haben, mit gewichtigen Gegengründen zu bekämpfen, so
insbesondere die Voi Stellung,, dass die Menschen sich überall
aus thierischen, affenähnlichen Anfängen zu höherer Gesittung
empor gearbeitet hätten. Die neuesten Ergebnisse
unbefangener Forscher auf dem Gebiete der Ethnographie
und insbesondere der Paläontologie sprechen eher für das
Gegentheil und lassen uns die Wilden einfach als „grosse
Kinder" erscheinen, die sowohl in ihrer Körperbildung, als
in ihren Sitten mit dem Affen nichts gemein haben. Eben
in diesen primitiven Zuständen ist der Oommunismus als
wirkliche Gütergemeinschaft ganz gewöhnlich durchgeführt;
ob eine bewusste Rückkehr zu diesem Naturzustand bei den
civilisirten Völkern denkbar, oder gar durchführbar ist,
erscheint dem Verfasser sehr zweifelhaft; er befürchtet
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