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Schupp: Inschauen.
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gemäss dem gang und gäben Vorurtheil eine ganz besondere
Wichtigkeit beimisst: — dem Experiment. Wohl wird das
Experiment hier Anwendung finden, aber bei Leibe nicht
in dem Sinne, in welchem die Naturwissenschaft ihre grossen
Erfolge in den beiden letzten Jahrhunderten damit erzielte,
indem sie es dazu verwandte, bei materiellen Vorgängen
eine eben solche, aber eindeutige Causalität zu demonstriren.
Dies konnte sie, weil ihr in der Bewegung eine allgemeine
einheitliche Bedingung gegeben ist, auf welche sich alle
Naturvorgänge zurückführen lassen. Im Gebiete des
Psychischen fehlt jedoch eine entsprechende Einheit, weshalb
dort selbst mit der Konstatirung einer Causalität noch nicht
viel gewonnen ist. Kann doch stets die Fundamentalfrage
aufgeworfen werden, ob die Causalität hier überhaupt
Berechtigung habe, oder ob sie nicht auf das Bereich des
Naturgeschehens zurückzuweisen sei?
Aber selbst den Nutzen und die Berechtigung einer
causalen Erklärung eingeräumt, bleibt noch ein weiterer
Umstand, welcher beweist, dass hier ein naturwissenschaftliches
Experiment im eigentlichen Sinne nicht anwendbar
ist. Ein solches besteht wesentlich darin, eine Erscheinung
künstlich so hervorzurufen, dass man alle verursachenden
Bedingungen derselben in der Hand hat und durch deren
Variation in directer Beobachtung je ihren Werth bemessen
oder abschätzen kann. Bei dem Experimentiren der Inschau
aber ist man weder in der Lage, die psychologischen Umstände
nach Bedarf zu variiren, noch eine directe Beobachtung
zu machen. Man muss sich also auf die indirecte Beobachtung
beschränken und die Beobachtung selbst einem Bewusstsein
überlassen, das anormal ist, und von dem man keine Gewähr
hat, dass seine Vorstellungen denen des Beobachters auch
nur einigermaassen ähnlich sind. Die interessantesten Aufschlüsse
aber muss dieses anormale Bewusstsein noch durch
Selbstbeobachtung und -beschreibung geben. Dadurch werden
die Bedenken, welche der Selbstbeobachtung schon überhaupt
im Wege stehen, noch verdoppelt.
Man kann daher mit Herrn Müller übereinstimmen, wenn
er für das Experiment überhaupt der Inschau gegenüber
eintritt, nicht aber, wenn er die Anwendung des naturwissenschaftlichen
Experimentes fordert; das letztere ist, wie ich
gezeigt zu haben glaube, hier unfruchtbar. Die Resultate,
die das Experimentiren an einem Inschauer liefert, bedürfen
jedoch einer wissenschaftlichen Durcharbeitung und Sichtung
mit den Hilfsmitteln der Geisteswissenschaften: — Interpretation
und Kritik.
Die Methodologie einer Erscheinung, wie der Inschau
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