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Fink: Christliche Mystik und Mystiker. 93
dem Abfall der Menschheit von der Fühlung zu, welche —
ihrer Ansicht nach — dieselbe mit der Gottheit unterhalten
sollte, und kraft welcher der Mensch ein Statthalter Gottes
auf Erden, ein Ausführer des göttlichen Willens sein würde.
In Folge von Ueberhebung und Selbstsucht, die den Abfall
nach sich zogen, sei der Mensch zu einem rücksichtslosen
Verwüster geworden, der nicht nur gegen die ihn umgebende
Natur, sondern auch gegen sich selbst und Einer gegen
den Anderen geradezu wüthe. So sei er ein Sklave des
Materiellen und den Leidenschaften ein williger Knecht
geworden. Die Freiheit, die ihm als einem Kinde der
göttlichen Liebe zuertheilt worden, habe er in unheimlicher,
verhängnissvoller Weise gemissbraucht. ßethört durch Trugfolgerungen
und Selbsttäuschungen habe er mit dem
Materialismus das Verderben gewählt. Selbiges habe —
nach Ansicht der Mystiker — bei rapid steigender Entartung
nunmehr einen so hohen Punkt erreicht, dass an Reformation
nicht mehr zu denken sei, um so weniger als die Menschen
im Allgemeinen so tief in verkehrte Ansichten und Neigungen
verstrickt seien, dass sie gar keinen Trieb mehr haben, zu
Richtigem zu gelangen. Wenn je die Unnatürlichkejt ihres
Zustandes sich ihnen drückend fühlbar mache, so seien sie
doch mit der verderbenbringenden Lebensweise so innig
verwoben, dass sie lieber das Schlimmste ertrügen, als von
ihrer Verkehrtheit abliessen. Und Wenige nur seien unter
den Vielen, bei denen der göttliche Lebensfunke stark genug
glimme, um sie aufrecht zu erhalten bis zur Zeit der
kommenden Rettung. Und die Rettung komme, sagen sie.
Auf Grund eigener Erfahrungen sowohl, als gestütztauf die
alten Verheissungen stellen die christlichen Mystiker den
Satz auf, dass Gott, der die allewige Liebe sei, weder die
Erde, noch ihre Bewohner zu immerwährendem Elend bestimmt
habe, und dass, wenn der Höhepunkt des Verlalles
erreicht sei, eine Aenderung entstehen werde, wie dies ja
auch in der ganzen Natur ausgeprägt sei. Unvermittelt,
mit einem Schlage, werde diese neue Zeit hereinbrechen;
so sei es von Alters her verheissen. Aber die Erkennenden,
die Feinfühlenden sollen es merken, wenn dieser Zeitpunkt
nahe ist. Sie sollen sich würdig vorbereiten auf die neue
Zeit. Zum Herrn im Hause sollen sie sich zunächst wieder
machen, da soll das Körperliche wieder der Herrschaft des
Geistigen untergeordnet werden. Das ganze Verlangen,
Sehnen, Fühlen, Denken, Sprechen, die Bedürfnisse sollen
einfach werden, der Sinn, das Herz soll nicht am Niedeien,
am Vergänglichen haften, sondern sich auf das Höchste
richten, und die Lebensschritte, das Handeln, sollen in diesem
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