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134 Psychische Studien. XXIV. Jahrg. 3. Heft. (März 1897.)
Ziele. Durch das praktische Verhalten derer, die so reden,
in den alle Tage aufstossenden eigenen Begegnissen setzen
sie sich selbst in Widerspruch mit ihren Aeusserungen. —
Will man die Idee, welche den Kern der biblischen
Wundererzählungen bildet, herausschälen, so ist es der
Glaube, dass GOtt unter gewissen Umständen unmittelbar
in den Lauf der Dinge eingieift. — 'Er stiilt einen Sturm,
er heilt einen Kranken, er ernährt Verhungernde, er befreit
Gefangene, er weckt Todte auf. Dies ist der religiöse
Glaube, die innerste Ueberzeugung der heiligen Schriftsteller.'
— Diese Ueberzeugung findet ihren Ausdruck im Wunderglauben
der Zeitgenossen; Fromme und Gottlose glaubten
an die Wunder, und die mündliche Ueberlieferung war
geneigt, deren ausserordentliches Wesen noch zu steigern.
Für unseren religiösen Glauben ist die Geschichtlichkeit
der erzählten Thatsachen minder wichtig, als deren Deutung
durch die Berichterstatter. Denn hesse sich auch allenfalls
die Geschichtlichkeit nachweisen, so wäre damit noch nicht
der übernatürliche Charakter erwiesen. Also darf man sich
die Unmöglichkeit des Wunderbeweises nicht
verhehlen. Dagegen hat der Glaube einen eigenen,
von der Geschichtlichkeit des Berichtes, durch welchen er
angeregt ist, unabhängigen Werth für sich, nämlich
einen religiösen Werth, und es handelt sieb demnach
hier mehr um eine psychologische, als um eine
historische Untersuchung. Im Wunderglauben lebt die
religiöse Wahrheit. In ihm enthüllt uns GOtt seine verborgene
, geheimnissvolle Thätigkeit in der Welt. Und in
diesem Gedankenkreis ist das Zeugniss Christi für uns die
höchste Offenbarung der Wahrheit. Der religiöse Glaube
hat nichts mit der Wissenschaft zu thun, sondern hat seinen
Ursprung in einem inneren, unmittelbaren Zeugniss, in dem
gottgewirkten Zeugniss des Gewissens; das inwendige
Zeugniss des heiligen Geistes ist der letzte Grund unseres
Glaubens, die Norm unseres Urtheils in religiösen Dingen.
Und weil sich uns nach diesem Zeugniss in Christi Thun
und Wesen GOttes Herz enthüllt, so ist auch sein Wort
uns Gottes Wort. Er aber lehrt uns, Gott vertrauen und
zu ihm beten als zu unserem Vater. Was der dann an
uns thut, als an seinen Kindern, das ist durch kein Naturgesetz
angezeigt, bedeutet jedoch ebenso wenig eine
Verletzung der Naturgesetze, sondern eine Nutzbarmachung
des Schöpfungswerkes im Dienste des Gnaden werkes, dem
Deterministen ein Wunder im eigentlichen Sinne, und doch
ein Wunder, wie wir es täglich vollziehen, wenn
wir dieGesetze derNatur in den Dienst unseres
!
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