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178 Psychische Studien. XXIV. Jahrg. 4. Heft. (April 1897.)
weiland Chamisso, der Dichter, dem Gespenste Platz machte
und „zu weinen in die Nacht hinausschlich", so war's doch
für dieses Mal mit dem Arbeiten vorbei. Die ausgegangene
Pfeife in der Hand, sass er, wie er mir am anderen Morgen
gestand, anfänglich in einem Zustande dumpfen Hinbrütens,
dann aber grübelnd bis tief in die Nacht hinein in seiner
Sophaecke. Ein noch nie gekanntes Gefühl der Furcht war
über ihn gekommen. Er fürchtete sich, sein nächtliches
Lager aufzusuchen; er fürchtete sich aber auch, das Zimmer
zu verlassen, um etwa unter fröhlichen Commilitonen Vergessenheit
im edlen Gerstensaft zu suchen. Konnte das
Spukgebilde nicht wiederum dastehen, wenn er um Mitternacht
heimkehrte? — Selbstverständlich suchte der erschütterte
Geist meines Freundes seine Sammlung in dem
beharrlichsten Nachspüren nach irgend einer Erklärung
dieser Erscheinung, die er nicht wegleugnen, nicht zur
optischen Täuschung stempeln konnte.
„Nach stundenlangem Grübeln glaubte er endlich die
Ursache des sonderbaren Phänomens gefunden zu haben.
Er theilte sie mir am folgenden Tage mit, und ich erlaube
mir, den Erklärungsversuch meines Freundes 1/., dem ich
meinen Beifall nicht versagen kann, den Lesern der
„Gartenlaube" zur freundlichen Beurtheilung vorzulegen.
Als H. in das Zimmer zurückkehrte, drang aus der von
aussen mit Nebelluft gefüllten Kammer ein durch den Rand
der geöffneten Thür scharf begrenzter feuchtkalter Luftstrom
in, senki echter Lage in die warme und trockene Stubenatmosphäre
. Auf diese von Wassertheilchen erfüllte Luftschicht
fielen die Strahlen der am Ofen stehenden Lampe.
Zwischen beiden — nämlich der Lampe und der feuchtkalten
Luftschicht — stand einige Secunden lang, während er die
Kammerthür schloss, Freund iT., den Rücken der Lampe,
das Gesicht dem eindringenden Nebel zugewendet. Die
Erscheinung, die ihn schreckte, scheint nun nichts Anderes
als sein eigenes Spiegelbild auf der senkrechten, durch das
etwas schräg von hinten einfallende Lampenlicht erhellten
Nebelwand gewesen zu sein. Sollte wohl nicht manche
'wirklich passirte* Schauergeschichte vom 'zweiten Gesicht'
ähnlichen, sehr natürlichen Vorkommnissen ihren Ursprung
verdanken?" —
Soweit der Bericht in der „Gartenlaube." Derselbe
entbehrt nicht eines gewissen Reizes, da er, wenn auch
indirect, von einem Manne erzählt wird, der, jeder oecul-
tistischen Erwägung spinnefeind, gleichwohl das von ihm
erblickte Phantom doch nicht einfach als „Hallu-
cination" hinwegzuvernünfteln vermag und daher, um sein
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