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222 Psychische Studien* XXIV. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1897.)
sah. Ich ging also schnell in die Küche, und wer beschreibt
mein Erstaunen, als ich den Bedienten gemüthlich beim
Nachtmahle sitzen sah!
,/Sind Sie denn nicht diesen Moment erst mit dem
Herrn angekommen?" — fragte ich verwundert den Bedienten
. — ,Nein, gnädige Frau, denn ich hatte die Absicht,
wie Sie befohlen haben, vorher die gnädige Frau abzuholen',
— war die Antwort. — Ich nahm das Licht und lief auf
die Gasse, damit ich sähe, ob man irgendwo Jemanden
erblicken könnte; aber nirgends war irgendwer zu sehen.
Jetzt schickte ich sogleich den Bedienten, meinen Gemahl
abzuholen, da mich die Vision sehr aufregte, und sobald
er kam, erzählte ich ihm das Ereigniss. — 'Ach, das war
nur Deine aufgeregte Phantasie', — war seine kurze und
bündige Antwort. Ich schwieg, da ich ihm das Gegentheil
unmöglich beweisen konnte, nahm mir aber vor, meinen
Begleiter über das Geschehene genau auszufragen.
„Den anderen Tag ging ich wirklich zu H.... w's und
fragte meinen gewesenen Begleiter: — 'Lieber Herr HA
— haben Sie gestern ganz genau erkannt, dass die zwei
Personen, welche wir gesehen haben, mein Mann und unser
Bediente waren?' — ,Aber natürlich, gnädige Frau; ich
lachte noch im Geheimen über die Dummheit des
Janfcic (Name des Bedienten), welcher, obwohl es mondhell
war, beide Kerzen in der Laterne angezündet hatte. Sie
haben ja alsdann Ihren Herrn Gemahl angesprochen; wir
waren ja auch ganz nahe und hörten sogar das Knirschen
des Schnees unter ihren Füssen/ — Als ich ihm nun sagte,
dass das doch weder mein Gemahl, noch sein Bedienter
war, und ihm überhaupt den weiteren Hergang erzählte,
war er über die Vision erstaunt, konnte sich aber das Ganze
nicht erklären.
„Das Ereigniss blieb mir unheimlich, und ich fürchtete,
dass es die Vorbedeutung irgend eines meinen geliebten
Mann treffenden Unheils wäre. Jahrelang konnte ich diese
Vision nicht vergessen, aber mein Mann lebte danach noch
zwanzig Jahre. Im Gespräche erfuhr ich von meinem Mann
über seinen Zustand während der Vision nur so viel, dass
er im Kasino mit einem sehr faden Herrn zusammengetroffen
war, und dass er mit der grössten Ungeduld die Ankunft
des Bedienten erwartete, um eine passende Gelegenheit zu
finden, der lästigen Gesellschaft los zu werden und sich
nach Hause zu begeben, wohin er sich eben deswegen sehr
sehnte." —
Jaska, 10. Januar 1897. Dr. G. v. GaJ.
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