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432 Psychische Studien. XXIV. Jahrg. 8. Heft. (August 1897.)
Prinzip, dass diese Windungen in ihren Functionen verschieden
sind, ausser Zweifel. Diese Ideen wurden von
Flourens und werden noch heutzutage von dem Physiologen
Goltz in Strassburg bekämpft; allein seitdem Dax und Broca
darauf aufmerksam gemacht hatten, dass die Function der
Stimme einen festen und besonderen Sitz in der dritten
Stirnwindung der linken Seite habe, brachen sich die
Localisationslehren von Neuem und immer sicherer Bahn,
und heute wissen wir auf Grund praktischer Arbeiten und
klinisch-anatomischer Vergleiche, dass sich aif der Hirnhaut
mehr oder weniger ausgedehnte und mehr oder weniger
abgezirkelte, scharf umrissene, aber immer localisationsfahige
Zonen befinden, deren Functionen verschiedener Art sind.
Wir haben die sogenannte Bewegungszone, den Gesichtssinn
, den Gehörssinn, und in allen dreien unterscheiden wir
Punkte oder untere Felder, die noch eine besondere Function
haben. Es erscheint recht und billig, bei dieser Gelegenheit
die Namen derjenigen Italiener in Erinnerung zu bringen,
die am meisten zur Ausgestaltung dieser modernen Lehre
beigetragen haben, und die sogar, wie selbst die Ausländer
sagen, thatsächlich eine italienische Schule bilden. Es sind
dies in erster Keihe Luciani, Albertoni, Tamburini und
SeppiilL Flechsig indessen beweist, dass die graue Substanz
nicht die einzige Bedingung des Bewusstseins ausmache;
er hält die bejahende Antwort, die insgemein auf diese
Frage gegeben wird, für keine definitive.
„Zur Haut der Hemisphären gehören nur die Sinneswahrnehmungen
äusseren Ursprunges, die Vorstellungen der
Aussenwelt und auch unseres eigenen Körpers. Das Be-
wusstsein jedoch der inneren und organischen Empfindungen,
Hunger, Durst, Bedarf an Sauerstoff u. s. w. wie der Zustand
des Wohl- oder Uebelbefindens, von dem sie begleitet sind,
haben gewiss nichts mit dem Gehirn zu thun. Die geringeren
Theile des Gehirns können bei den Thieren ohne Hirnschale
immer noch jene Functionen erfüllen, die ausreichen,
nicht allein das Leben zu erhalten, sondern bei einigen
sogar für die zur Fortpflanzung nothwendigen Vorgänge.
Ein gehirnloses Säugethier stellt sich nicht als der Fähigkeiten
der Empfindung und der Reagirung beraubt dar, die
wir bei den niederen Thieren seelische, oder wenigstens den
seelischen gleichkommende nennen. Es reagirt beispielsweise
auf Eindrücke wie Licht und Lärm und auf innere Empfindungen
, Muskelsinn, Hunger und Durst mit verschiedenen
Kundgebungen, wie sie den leidenden Zuständen angepasst
sein würden, wie sie ein Thier mit vollständigem Gehirn
hat: es bewegt sich, beisst, flieht, hat Furcht, schläft, u. s. w.
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