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446 Psychische Stadien. XXIV. Jahrg. 8. Heft. (August 1897.)
Rath befolgte, war es mir, als spürte ich an den Fingerspitzen
ein electrisehes Prickeln, etwa so, als sei ein starker
constant-electrischer Strom in das Wasser im Waschbecken
geleitet. Nun — jedenfalls war die Kranke von ihren
fürchterlichen Schmerzen gänzlich befreit, die Steifheit im
Rückgrat war verschwunden, und sie konnte sich, zum
Erstaunen aller Nachbarn, ohne jegliche Beschwerde aufs
Sopha setzen. — Nach vier Tagen besuchte ich sie wieder,
- mein Wohnort war zwei Stunden per Bahn von dem
ihrigen entfernt. Sie lag wieder im Bett mit schmerz-
verzerrten Zügen und erklärte, die Besserung habe zwei
Tage angehalten, dann seien die Schmerzen mit doppelter
Heftigkeit wieder aufgetreten. Ich magnetisirte die Kranke
abermals mit demselben Erfolge wie vorher, die Beschwerden
verschwanden wie durch Zauber, um nach zwei Tagen
wieder aufzutreten.
Ich tröstete die Patientin, sagte ihr, dass diese scheinbaren
Verschlimmerungen unbedingt nothwendig seien zur
allmählichen Heilung der Krankheit, da dieselben eine
Reaction, ein Ansturm der aufgerüttelten Naturheilkraft zu
bedeuten hätten. Abermals wurde sie magnetisirt, abermals
waren alle Beschwerden ohne irgend welche suggestive
Einwirkung sofort verschwunden, und abermals kamen sie
nach einigen Tagen wieder. Früher, bei homöopathischer
Behandlung chronischer Krankheiten begrüsste ich es immer
mit Freuden, wenn die Patienten entrüstet zu mir kamen
und mir mittheilten, ihr Leiden sei gleich in den ersten
Tagen bedeutend schlimmer geworden; denn ich wusste,
dass alsdann die nachfolgende Heilung nicht lange auf sich
warten lassen würde. Dergleichen festen Ueberzeugung war
ich auch hier, und die Magneto- oder Od-Therapie hätte
einen glänzenden Triumph feiern können, wenn die schmerzgeplagte
Kranke nicht nach der vierten Magnetisation schon
die Geduld verloren hätte*
„Nicht mehr Hände auflegen! Ich will nun sterben!"
— wimmerte sie. Umsonst war alles Zureden, sie Hess
sich nicht überzeugen, ebensowenig wie die unkundigen
Patienten, welche gegen chronischen Ausschlag Sulfur in
höherer Potenz gebrauchen und nach der ersten scheinbaren
Verschlimmerung — zu Anfang der Kur — das Medikament
zum Fenster hinauswerfen. Fünf Wochen nach meinem
letzten Besuche bekam die Kranke in Folge einer Erkältung
eine Pneumonie (Lungenentzündung), an der sie verstarb.
Ueber eine genaue Diagnose ihres Rückenleidens bin ich
mir ebenso im Unklaren geblieben als der allopathische
Arzt. Man konnte eben nicht „hineinsehen". Eine medicinisch
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