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Kurze Notizen.
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von Statten. Dies war nun gut, aber gleich nach dem Schafe
wurde auch die Frau des Hauses von Wehen befallen, was
ihr klägliches Geschrei den beiden Gästen kundgab. Von
Mitleid ergriffen, bat der jüngere Kundige den älteren,
nun auch dem Weibe seinen Beistand nicht zu versagen.
— ,Wohl, ich will ihr helfen*, — sagte dieser, — ,es entsteht
aber nichts Gutes daraus, denn sie wird einen Sohn
zur Welt bringen, der seinen Vater tödtet und seine Mutter
heirathet.* — Darauf sprach er: — ,Es weiche der Schmerz
von dem Weibe!' — und sogleich genas sie eines Sohnes.
Am anderen Morgen setzten die beiden Kundigen ihre
Reise fort; aber der Herr des Hauses hatte ihre Reden
gehört; er ging mit kummervollem Gemüthe zu seiner Frau
und berichtete ihr, was die Männer geweissagt hatten. Die
Frau erschrak darob, und Beide überlegten nun miteinander,
was zu thun sei. Anfangs wollten sie ihr Söhnlein tödten,
aber die Ausfuhrung dieses Entschlusses brachten sie nicht
über's Herz, und so beschlossen sie, es heranwachsen zu
lassen und den Erfolg ruhig abzuwarten, denn jene Prophezeiung
könnte ja auch falsch sein. Nun kam der Herbst
und das Fest Keyri. Da schlachtete man das Lamm und
kochte, nach altem Herkommen, eine Suppe daraus. Als
die Suppe fertig war, öffnete man ein Fenster und legte
das Fleisch darauf, damit es kalt würde. Die Suppe aber
wurde in Schüsseln auf den Tisch getragen und von der
ganzen Familie gegessen. Da gedachte der Hausherr jener
Prophezeiung und sagte: — 'Unsere Gäste waren doch
Lügner, dass sie geweissagt haben, ein Wolf würde dies
Lamm fressen, es steht ja nun als Suppe vor uns!' — Bald
war die Suppe verzehrt, und nun sollte auch das ausgekochte
Fleisch an die Reihe kommen; allein dies war vom Fenster
verschwunden und an die Erde gefallen, und siehe da —
ein Wolf verschlang eben den letzten Bissen! Da überfiel
alle ein grosser Schrecken; sie sahen den ersten Theil der
Weissagung erfüllt und befürchteten nun ganz natürlich,
dass auch der zweite in Erfüllung gehen würde." — Der
weitere Verlauf der Erzählung ist für uns nicht weiter von
Belang: — es entwickelt sich der richtige finnische Oedipus,
der, von seinen Eltern auf eine Planke gebunden und dem
Meere überliefert, an eine fremde Insel angetrieben, dort
gefunden und von mitleidigen Leuten aufgezogen wird, als
erwachsener junger Mann in seine Heimath zurückkommt,
dort unbekannter Weise seinen Vater tödtet und seine
Mutter heirathet, schliesslich aber, nachdem Alles offenbar
geworden, durch schwere Bussarbeit sammt seiner Gattin-
Mutter, zu welcher er dann wieder in das natürliche Sohnes-
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