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Wittig: Weiteres Geister-, Spuk- und Rätselhaftes. 671
heilen, so viel sie vermochte, trat erst in ihren späteren
Lebensjahren, als ich nach meinem 14. Lebensjahre wegen
auswärtigen Studirens, die Ferien ausgenommen, nicht mehr
daheim bei den Eltern sein konnte und meine jüngeren drei
Brüder nach und nach gestorben waren, mehr und mehr
in ausschliessliche!e Thätigkeit; als Geschäftsfrau und Mutter
hatte sie sich in den ersten vierzehn bis zwanzig Jahren
meines Lebens vorwaltend mit der eigenen Profession,
Familie und Häuslichkeit zu beschäftigen. Besonders
berühmt und gesucht war sie, was sie von ihrer seligen
Mutter überkommen hatte, als „Versprecherin und plötzliche
Blut&tillerin" frischer Wunden, im sogenannten sympathetischen
„Messen" solcher Leute, die nach ihrer Angabe
„das Maass verloren hatten", und im Versprechen des
sogenannten „Herzegespannsa (einer mit stiller Abzehrung
verbundenen Erkrankung des „Plexus solaris"), das besonders
mein seliger Grossvater durch magnetisches Streichen mit Gebet
zu üben verstanden hatte, ähnlich wie seiner Zeit Herr
Goos einige von ihm beobachtete Fälle (s. „Psych. Studien"
November-Heft 1889 S. 507, Note) berichtet hat. Ich wollte
lange nicht an die Wirkung dieser Proceduren glauben, bis
ich einst an mir selbst mehrfach ihre thatsächliche und
schnelle Heilwirkung erprobte und ich sie diese Kunst mich
selbst zu lehren bat, wobei ich erfuhr, dass dies zwischen
Mutter und Sohn weit schwieriger sei, als zwischen einem
fremden, nicht verwandten weiblichen Wesen und mir als
einem männlichen. Doch that sie es, und ich bin im Besitz
ihres Wissens, obgleich ich es nur selten und zumeist nur
im eigenen Familienkreise ausübe, leider mit nicht stets so
schlagendem Erfolge, wie sie es that, die nicht mit so viel
nervenerschöpfender Schreibthätigkeit geplagt war. Was das
„Messen" betrifft, so wird dieses heute noch vielfach als
„purer Aberglaube" verschrieen, und doch ist es eine noch
nicht seit lange her (durch den f Leipziger Professor Ludwig)
wieder neuentdeckte, physiologische Thatsache, dass zu
Zeiten der Blutkreislauf im Menschen sich auf besondere
Organe und Gliedmaassen werfen und in Folge dessen auch
die Extremitäten, Arme und Beine wie den ganzen Körper,
verlängern und verkürzen kann. (Vgl. „Psych. Stud," Juni-
Heft 1876 über das Volumeter.) Die gemessene Breite der
ausgestreckten Hände sollte gleich sein der Körperlänge vom
Wirbel bis zur Ferse. War sie dies nicht, so war der
Mensch krank, „er hatte das Maass verloren" und musste
durch eine besondere Messung mit einem Faden und dafür
bestimmten Gebets- oder Heilspruche und einem nachfolgenden
geheimen Verfahren mit dem Messfaden wieder
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