http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1898/0139
Handrich: Animismus oder Spiritismus.
131
Wohnung, kletterte drei Stiegen in der von lauter Juden
bewohnten Miethskaserne empor, und das um so lieber, als
es genau, wie er vorausgesagt hatte, bitter kalt war,
trotzdem es an dem Abend, an welchem wir uns trafen,
in Strömen regnete und keine Aussicht für einen in jeder
Beziehung zugetroffenen Witterungswechsel vorhanden war.
Beim Betreten des kleinen Hinterzimmers, das gleichzeitig
als Küche diente, erwiederte die mit Feueranmachen
beschäftigte hübsche Frau auf meine Frage nach dem
„Professor", dass er noch schlafe, da er die ganze Nacht
bis in den Morgen hinein „gearbeitet" habe. Nachdem ich
Platz genommen hatte, gesellten sich nach und nach drei
seiner Jungen und ein niedliches Mädchen herzu, mit denen
ich mich aufs Btste unterhielt. Der jüngste, circa 8 Jahr
alte n Isidor" schien nicht nur das Aussehen, wohl aber
auch das Talent seines Vaters geerbt zu haben. Die mit
Sicherheit ausgeführten Kartenkunststücke machten seinem
Lehrmeister alle Ehre und trugen dem kleinen Virtuosen
etwas Scheidemünze ein. Als Anerkennung Hess mich Frau
Rössel das kurze, knallrothe, mit Schellen garnirte Röckchen
ihrer 14 jährigen Tochter bewundern, die in der vergangenen
Nacht einem Maskenball beigewohnt hatte und bald darauf
mit verschlafenen Augen, aber einem glückseligen Lächeln
in dem reizenden Gesichtchen erschien.
Bald darauf kündigte sich aus dem anstossenden
Schlafzimmer das Erwachen des Professors durch Räuspern,
Husten und Stöhnen an. Von meiner Anwesenheit in
Kenntniss gesetzt, Hess er nicht lange auf sich warten,
begrüsste mich freundlich, wies mit Genugthuung nach den
gefrorenen Fenstern, pries den Erfolg der vergangenen
Nacht, die ihm in einem von Schiffsofficieren und dessen
Freunden frequentirten Hotel nahezu 350 Dollars eingebracht
hatte, und freute sich, dass der „Isidor" bereits sein Frühstück
verdient habe. Trotzdem die kleinen, stechenden
Augen nichts Uebernächtliches an sich hatten und er oft
und viel lachte, wobei sich der gewaltige Mund wie der
eines Nilpferdes überweit öffnete, so ahnte ich dennoch,
dass er an Kopfschmerzen litt, und da er dann auch meine
dahin zielende Frage bejahte, so manipulirte ich magnetisch
den massiven, mit kurzgeschuittenen, steifen Haaren besetzten
Kopf, so wie die niedrige, aber von ungewöhnlicher
Gedächtnissanlage zeugende Stirne. Da er sich nach Verlauf
von wenigen Minuten wie neugeboren erklärte, durfte ich
auch in die gute Stube, in weicher sich Rössets Geschlechts-
stammbaum, mit allegorischen Figuren verziert, hinter Glas
und Rahmen befand, durfte von seinem echten, importirten
9*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1898/0139