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218 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1898.)
unauslöschlichen Eindruck Nero im römischen Volke zurück-
liess, das erhellt aus der Thatsache, dass noch im elften
Jahrhundert — tausend Jahre also nach seinem Tode —
in Rom die Rede ging, Nereus Geist treibe sich nächtlich
vor der Thoren der Stadt herum und warte auf Einlass.
„Ein interessantes Beispiel von Geisterspuk findet
sich in den Briefen des Plinius (Ep. VII, 27). Es zeigt
sich dort, dass selbst ein so aufgeklärter und feiner Kopf
wie dieser Mitarbeiter und Rathgeber des Kaisers Trajan
zwar die Skepsis gekannt hat, aber nach reiflicher Ueber-
legung doch zu der Ansicht gekommen ist, der Glaube
an Geister und Gespenstererscheinungen müsse
begründet sein. Der Autor schreibt an seinen Freund Sura:
— 'Die Müsse giebt mir Gelegenheit, etwas zu lernen, und
Dir, mich zu belehren. Ich wünsche nämlich in Erfahrung
zu bringen, ob Du an Gespenster, eine besondere Gestalt
derselben und ihren Einfluss auf uns glaubst, oder ob Du
sie nur für leere und eitle Gebilde unserer Furcht hältst?
Was mich vornehmlich bestimmt, an sie zu glauben, ist die
Geschichte, welche dem Curtius Muftis begegnet ist.
Rufus hatte sich als ein noch mittelloser und unbekannter
Mensch im Gefolge des Statthalters in Afrika befunden.
Dort ging er, als der Tag sich neigte, in einer Säulenhalle
spazieren. Da trat ihm eine weibliche Gestalt von
übermenschlicher Grösse und Schönheit entgegen,
die ihm die Zukunft weissagte. Sie sei Jfrica, behauptete
sie; er werde nach Rom gehen, Ehrenstellen bekleiden, dann
als Oberbefehlshaber in die Provinz Africa zurückkehren
und hier sterben, — Alles ist eingetroffen. — Auch soll
ihm, als er dann später in Karthago landete, die gleiche
Figur am Ufer erschienen sein. — Doch dies nur beiläufig;
denn das Folgende ist weit schauerlicher und ebenso
wunderbar.
„'Zu Athen war ein grosses, geräumiges, aber verrufenes,
unheilbringendes Haus. In der Stille der Nacht hörte man
Eisen klirren und, wenn man genauer horchte, Ketten
rasseln, zuerst in der Ferne, dann immer näher und näher.
Bald erschien dann eine abgehärmte, hässliche
Greisengestalt mit langem Barte und struppigen
Haaren. An Händen und Füssen trug sie Ketten und
Fesseln, die sie hin und her schüttelte. Die Bewohner des
Hauses durchwachten daher traurige und schreckliche
Nächte; auf das Wachen folgte die Krankheit und bei
zunehmender Krankheit schliesslich der Tod. Denn auch
bei Tag, wenn das Gespenst verschwunden war, schwebte
es in der Einbildungskraft vor den Augen der Insassen.
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