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Wedel: Das Uebersinnliche in der deutschen Litteratur etc. 327
Yglano wieder, und er, welcher geglaubt hat, lange Jahre
seien seit dem Beginne des Zaubers verflossen, sieht am
unverminderten Stande der Sanduhr, dass alles in kaum
einer Sekunde an seinem Geiste vorüber gezogen ist, und
wird von dem entrüsteten Zauberer ironisch zur Thüre
hinaus komplimentirt. Es ist ein hübsches Beispiel für die
Subjectivität des Zeitmaasses. — Die fascinirende Wirkung
des menschlichen Blickes wird vorzüglich in dem Gedichte
— „Das Auge" geschildert, wo ein durch viele Jahre
Gelähmter eine Hausirerin durch blosses festes Anschauen
zum Eingeständnisse eines Verbrechens bringt. — Eine Spukgeschichte
, welche auf einer Anekdote oder wahren
Begebenheit beruht, die sich in Sachsen zugetragen haben
soll, behandelt die Ballade — „Der Geist der Mutter": —
Ein Sohn, welchen sein geiziger Vater in der Fremde hat
erziehen lassen, ist mündig geworden und kehrt in die
Heimath zurück. Der unnatürliche Alte, welcher verpflichtet
ist, ihm das Erbe der Mutter auszuliefern, beschliesst, sein
Kind in der Nacht zu ermorden. Der junge Mann liegt in
seinem Zimmer zu Bette. Da erscheint ihm der Geist seiner
Mutter und befiehlt ihm, sich ganz still zu verhalten. Sie
schwebt gegen die Thür, welche sich öffnet, und durch
welche der Alte eintritt, um sein Vorhaben auszuführen.
Der Geist scheucht den unnatürlichen Vater zurück, und
der Sohn entflieht, um nie wieder zukehren. — Ghamisso\
Vorliebe für das Grausige zeigt sich dabei recht deutlich;
denn in dem ursprünglichen Berichte wird die Handlungsweise
des Vaters, wenn auch nicht entschuldbar gemacht,
so doch motivirt. Dort hat dieser nämlich zum zweiten
Male geheirathet und befindet sich, wenn der Sohn aus
erster Ehe sein strenges Recht fordert, mit Frau und Kindern
in bitterer Noth.
Der eigentliche Poetenwinkel Deutschlands, das sangesfrohe
Schwaben, dessen Söhne zugleich an mystischer
Begabung kaum hinter den Kindern der rothen Erde
zurückstehen, liefert, in jener Zeit wenigstens, nur einen
Vertreter, Wilhelm Hatiff. Und auch dieser, welcher in
seinen Märchen und Novellen so oft das Uebernatürliche
heranzieht, hat das rein Uebersinnliche nur in seiner
Erzählung — „Othello" — verwerthet. Und auch hier ist
ein Phänomen behandelt, welches wohl, wenn überhaupt je,
nur spät die Anerkennung finden wird, einen an ein
Pürstenhaus geknüpften Spuk nach Art der weissen Frau.
Der Inhalt ist in Kürze folgender: — Ein Fürst hat seine
Geliebte, eine schöne Schauspielerin, in der Rolle der
Desdemona von ihrem bestochenen Partner ermorden lassen,
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