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338 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 7, Heft. (Juli 1898.)
Ganz anders verhält es sieh mit der folgenden Vision.1)
K. quälte sich damals (1830—1831) damit ab, religiöse
Dogmen in ihrem innersten Sinne zu erfassen. Auf seiner
Seele lastete der Religionsunterricht, der ihn — H. war eine
trockene, prosaische Verstandesnatur — auf ein stumpfes
Glauben verwies. In diesem Streite zwischen menschlicher
Natur und den Forderungen der Religion, in dieser Seelenangst
erging es ihm, wie so vielen Heiligen und Erleuchteten:
seine aufgeregte, schon von Natur aus sensitive Seele
blickte intuitiv in das Getriebe alles Seins. Sie schaute
in der Form der Vision, was ihr kein Denken zu entschleiern
vermochte. Der Drang nach Erkenntniss gebar
die Erkenntniss selbst. Daumer berichtet: —
„//. hatte Momente, wo ihm eine plötzliche Erleuchtung
und Offenbarung zu kommen schien, und wo ihm symbolische
Bilder voll tiefen Sinnes in visionärer Weise vor Augen
traten. So war es einmal im Winter 1830 auf 1831, wo
er ein^n grossen Drang nach Erkenntniss verspürte. Da
sei ihm, erzählte er, auf einmal alles klar geworden und
zwar durch ein Bild, das sich ihm darstellte, und dessen
Bedeutung er zugleich vollkommen verstand. Es sei ihm
gewesen, „als sei Alles Eins, die Menschheit mit der
Natur zusammen", doch aber so, „dass eigentlich
erst die Menschheit das Ganze ausmache." Das Bild,
das er gesehen, sei eine Art von Baum gewesen, dessen
Aeste sich bewegt und allerlei Figuren gebildet hätten, die
ihm nicht mehr klar seien; denn er sei in seiner Betrachtung
gestört worden und dann durch einen Kampfergeruch
erkrankt; da sei ihm jene Klarheit getrübt worden, und
es sei ihm jetzt, als wäre ein Flor darüber. So viel wisse
er noch: — entgegengesetzte Aeste hätten sich in
einander bewegt, und es sei ihm gewesen, als entstehe
dadurch erst das Ganze. Der Baum sei auf einer Basis,
auf etwas Festem gestanden, das er nicht mehr näher zu
bezeichnen wisse; von unten auf sei wie eine Stange gegangen,
auf deren Spitze sich ein Krönlein mit einer rothen Beere
darin befunden; es habe ihm geschienen, als sei das die
Hauptsache." — Daumer bemerkt hierzu: — „Es zeigen
sich hier speculafive Gedanken; namentlich ist es der eines
einheitlichen Weltganzen mit einer Entwickelung, die von
unten nach oben geht und eine höchste Spitze der Vollendung
erreicht; es ist auch die Einheit erkannt, die aus dem sich
aufhebenden Gegensatze resultirt. Hierbei ist wohl zu
bemerken, dass in dem Unterrichte, den //. damals genoss,
*) Daumer 1859, S. 94.
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