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Kurze Notizen.
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Nadel mehrere Löcher in ein Stechapfelblatt und spricht
bei jedem Stiche: — 'Dies ist das Auge, dies der Mund,
dies die Hand, dies das Herz* u. s. w. — und verbrennt
dann das Blatt im Glauben, so den vermeintlichen Feind
unschädlich gemacht zu haben. Sind die armseligen Habseligkeiten
in den Erdhöhlen untergebracht, dann versammelt
der Wojrvoäe seinen Stamm und 'zählt die Häupter seiner
Lieben*, aber da fehlt ihm nicht selten manches 'liebe
Haupt', das irgendwo in Dienst getreten, oder mit den
Behörden in Kollision gerathen, in's 'kühle Haus', in den
Kerker gesetzt worden ist. Nach allgemeinem Schmause
wird unter Gesang und Tanz eine mit Tannenreisig und
Epheu umhüllte Strohpuppe, der 'schwarze Mann' (kalo
manusch) verbrannt und die Asche in die Erdhöhlen
verstreut, um die bösen Geister den Winter über fern zu
halten. . . . Die fröhlichste Winterzerstreuung bietet dem
Zigeuner das Weihnachtsfest. Schon die Woche vorher
wird der Bereitung verschiedener Heil- und Zaubermittel
gewidmet. Hasenfett, in dieser Zeit gesammelt, bildet ein
Geheimmittel, das namentlich in Liebessachen von guter
Wirkung sein soll. Eine Muskatnuss und etwas Kampfer
werden in ein Tüchlein gebunden und an den Eingang der
Erdhöhle gehängt als Schutz gegen den lMulo\ ein vampirartiges
, knochenloses Wesen, das aus todtgeborenen Kindern
entsteht und besonders am Weihnachtsabend die Weiber
verfolgt, raubt und in seine Wohnung hoch oben im Gebirge
bchieppt. In der Christnacht reden die Thiere mit einander,
doch darf man sie nicht belauschen, sonst könnte man von
den Urmen, den Feen, die um diese Zeit die Thiere
'segnen', getödtet werden." — Also auch hier noch ein
abgefallenes und aufgelesenes Stück uralten germanischen
Glaubens an die Spukgeister der Sonnenwendzeit. Die
hübsche Sage vom „Allsamenbaum" müssen wir leider als
für unseren Zweck zu lang übergehen, glauben jedoch seine
richtigere Deutung darin zu findenf dass er, dessen Ende
(Wipfel) eine riesige Schlange im Munde hält und bis in
den Himmel hinein ragt, und dessen Anblick jung macht,
der nächtliche gestirnte Himmel in all seiner glitzernden
Pracht ist. Denn über diesen Himmel zieht sich ja das
Sternbild der „Schlange" und das des „Drachen". — „Um
diesen Allsamenbaum sehen zu können, schlagen die
Wanderzigeuner am Nachmittag des Weihnachtsvortages
auf dem ihren Winterquartieren nächstgelegenen Hügel ein
Weidenbäumchen in die Erde, dessen Zweige sie in Knoten
schlingen; daneben schlägt man ein Tannenbäumchen ein
und umwickelt beide Bäumchen mit einem rothen Faden;
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