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370 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 8. Heft. (August 1898.)
ein körperlicher, fremder Mensch sei, der sich dort aus dem
Fenster herausbeuge; denn schon die Art ihres Sehens sei
eine ganz andere gewesen, wie die des gewöhnlichen Sehens:
sie hätte seine Gesichtszüge, seine Kleidung u. s. w. viel
schärfer und deutlicher gesehen, als sie dies normaler Weise
auf solche Entfernung zu erkennen vermochte, da sie ein
wenig kurzsichtig ist; ferner hätte sie sich auch dabei wie
in einem magnetischen Bann befunden, indem sie den Blick
nicht von der Erscheinung hätte wenden können und auch
nicht im Stande gewesen wäre, Jemanden zu rufen, oder
aufzustehen und näher zu gehen. Ja, es sei ihr sogar nicht
leicht geworden, mir davon zu erzählen. Während der
Dauer der Erscheinung hätte sie nicht die geringste Furcht
verspürt, sondern in aller Seelenruhe mit grossem Interesse
das seltsame Phänomen beobachtet.
Ich nahm diese Mittheilungen mit überlegenem Lächeln
auf, da ich in dem Vorgefallenen nichts weiter als ein
Phantasiegebilde meiner Frau in Ifolge ihres Zustandes
erblickte. Mehr um meiner Pflicht als Occultist zu genügen,
derartige Vorkommnisse in ihren Details festzustellen, wie
aus persönlichem Interesse, (denn ich hielt von der ganzen
Sache absolut nichts,) Hess ich mir nun von meiner Frau
eine genaue Personsbeschreibung des mysteriösen jungen
Mannes geben. Sie schilderte ihn mir darauf in folgender
Weise: — sehr schlecht aussehend, von gelber Gesichtsfarbe,
die Wangen etwas eingefallen, vorstehende Backenknochen,
ein sehr schwaches Schnurrbärtchen, Augengläser, auffallend
„schäbig44 gekleidet, mit einem komisch grossen, dunkelbraunen
Strohhut. Ich dachte hin und her, auf wen diese
Beschreibung passen könnte, doch fiel mir weder von Verstorbenen
, noch von Lebenden jemand dergleichen ein, so
dass ich, dadurch in meiner ursprünglichen Auflassung nur
noch bestärkt, mit einem wohlwollenden — „Geh', geh*!" —
gegenüber meiner Frau die Affaire abgethan zu haben glaubte.
Um ja keinen Umstand unerwähnt zu lassen, will ich
noch bemerken, dass zu der Zeit, als meine Frau die
Erscheinung erblickte, Niemand sich im Lesezimmer befand.
Dasselbe war abgesperrt, der Schlüssel steckte von aussen,
doch hätte ich in dem unmittelbar anstossenden Badezimmer
jeden Tritt eines Kommenden oder Gehenden auf der Holztreppe
, sowie ein eventuelles Auf- und Zusperren der Thüre
des Lesezimmers unbedingt hören müssen. —
Es vergingen einige Wochen; wir hatten die Erscheinung,
von der wir, nebstbei bemerkt, Niemandem gegenüber Erwähnung
gethan hatten, schon längst vergessen, als ein
zweites ähnliches Vorkommniss mein Interesse in höherem
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