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372 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 8. Heft. (August 1898.)
herrschenden Mode. Sie war ruhig gestanden, eine Hand
vorn am Körper liegend, die andere herabhängend, und
hatte unverwandt nach meiner Frau hingesehen.
Auf diese Personsbeschreibung hin fiel mir nach einigem
Nachdenken die Frau eines früheren Eigenthümers unseres
Hauses ein, welche, vor mehr als 50 Jahren gestorben, wie
ich gehört hatte, sehr korpulent, jedoch, wie ich ebenfalls
gehört zu haben glaubte, von sehr kleiner Statur gewesen
sein sollte. Ich theilte dies meiner Frau mit und fragte sie
darauf hin, ob sie sich nicht bezüglich der Grösse getäuscht
haben könnte. Sie verneinte und blieb dabei, dass es eine
stattliche Gestalt gewesen sei.
Die betreffende Frau, an welche ich dachte, hatte
hierorts weder Familie, noch Verwandte besessen; ein
Bildniss von ihr existirt hier nicht und hat nicht existirt;
die Familie meiner Frau, respective meiner Schwiegereltern,
war erst 30 Jahre nach dem Tode dieser Frau in unser
Städtchen gekommen und hatte keine Ahnung von dem
Aussehen dieser längst verschollenen Persönlichkeit; meine
Frau selbst hatte nie etwas von ihr gehört; das Wenige,
was ich selbst diesbezüglich wusste, oder zu wissen vermeinte,
nämlich: dass sie korpulent und klein gewesen sei, glaubte
ich in meiner Kindheit von meiner vor fast 20 Jahren
gestorbenen Mutter gehört zu haben. — Glücklicherweise
aber lebte noch Jemand, der diese Frau zu Lebzeiten gut
gekannt hatte: meine alte Tante!
Ich ging also am nächsten Vormittage zu ihr hinauf,
(sie wohnt im zweiten Stockwerke meines Hauses,) brachte
das Gespräch auf die gewisse Persönlichkeit und fragte sie
schliesslich nach dem Aussehen derselben, ohne den Grund
meiner Frage zu verrathen. Zu meinem Erstaunen hörte
ich nun, dass die Betreffende thatsächlich von grosser
Statur gewesen, (während ich geglaubt hatte, dass sie klein
gewesen sei,) sehr korpulent, (was ich gewusst hatte,) dass
sie eine gebogene Nase gehabt und stets die von meiner
Frau am vorigen Abende geschilderte Frisur getragen habe
(welche Characteristica mir nicht bekannt gewesen waren). —
Es stimmte also einfach Alles! — Was war das nun
für eine Haljucination gewesen? Ein „zufällig stimmendes"
Phantasiegebilde? - O, über den losen Schäker Zufall! —
Oder ein „Erinnerungsbild", dessen Zustandekommen in
diesem Falle dadurch erklärt werden könnte, dass, während
ich mich im Nebenzimmer befand, das Unbewusste meiner
Frau rasch im zweiten Stock beim Unbewussten meiner
Tante eine kleine Erinnerungs-Zwangsanleihe machte und
die glücklich erhaschte Beute sofort — Geschwindigkeit ist
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