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426 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 8. Heft. (August 1898.)
kalisehe und chemische Thatsachen zurückführen lassen.
Damit kommt man indessen den Vorgängen des Lebens
gegenüber nicht aus; die Physik und Chemie der todten
Materie kann die Erscheinungen des lobendigen Stoffwechsels
nicht ausreichend erklären, und so ist die todtgesagte Lehre
von der Lebenskraft des Vitalismus in neuer Form bei den
Naturforschern wieder iu siegreichem Vordringen begriffen *)
Wo physikalische und chemische Vorgänge dem todten wie
dem lebenden Organismus in gleicher Weise eigenthümlich
waren, hat man schon früher, unter der Herrschaft des
Vitalismus, auf die Gesetze der unbelebten Natur zur Erklärung
zurückgegriffen. Aber es bleiben darüber hinaus
viele Gesetze, die dem Leben als solchem eigenthümlich sind
und eine besondere Behandlung der Lebensvorgänge aus
ihren eigenen Gesetzen heraus erforderlich machen. Ein
geistvoller Physiker verglich darum mit Recht die Lehre
von der Physiologie als angewandter Physik und Chemie
jener Philosophie des Thaies, der Alles auf das Wasser als
Grundprinzip zurückführte. — Auch bei der Theorie der
Nerventhätigkeit hat die mechanische Anschauung, wie sie
namentlich in Emil Dubois-Reymond einen beredten Vertreter
hatte, sich nicht aufrecht erhalten lassen. Dvbois* Lehre,
dass die Electricität die eigentliche Thätigkeit der Nerven
ausmache, blieb lange die hauptsächlichste Stütze für die
Theorie von der Gleichartigkeit aller Nervenfasern. Nach
eingehenden Auseinandersetzungen über diese Theorie, ihre
Gründe und Gegengründe, erörterte der Vortragende die
neue Theorie, nach welcher Nervenlaser und Nervenzelle
eine zusammenhängende Einheit, das Neuron, bilden. So ist
ein Nervenstrang nicht mehr als ein Bündel von leitenden
Nervenfasern, sondern als eine Anzahl selbstständiger ausgestreckter
Arme anzusehen. Prof. Hering führte dann die
Gründe für die von ihm vertretene Ansicht aus, dass die
Neurone ungleichartige, nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ ausbildungsfähige Einzelexistenzen seien. Das
Nervensystem gleicht einem Lande mit zahlreichen Städten,
die durch Strassen verbunden sind, auf denen sich jedoch
nur eine gleiche Art von Fuhrwerken bewegt. Erst durch
diese Anschauung lässt sich z. B. die Erscheinung des
hewussten und unbewussten Gedächtnisses erklären, für
welche den Anhängern der Gleichartigkeit der Nervenelemente
jede Erklärung versagt. Die Anlage zu seiner Thätigkeit
ist dem Neuron angeboren, aber die Thätigkeit ist einer
*) Vergl. hierüber Näheres in „Psych. 8tud." September-Heft 1890
S. 414 ff, — Der Sekr. d. Ked.
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