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Kurze Notizen.
ja längst erwieser.. — Der Sekretär der Redaktion
. —
A) Eine Prophezeiung. — Aus einem kleinen Orte
jenseits des Semmerings wird uns von einem Leser geschrieben
: — Seit einiger Zeit circulirt in unseren Thälern
eine kleine, nicht uninteressante Geschichte, die wenigstens
ob eines merkwürdigen Umstandes verdient, zur Notiz
genommen zu werden. Ob sie sich auch genau so zugetragen,
wie sie der Volksmund kolportirt, konnte ich natürlich nicht
feststellen, und ich vermag die schaurige Mär' also nur so
weiter zu erzählen, wie ich sie an einem der jüngsten
Abende am flackernden Heerdfeuer in einer Bauernhütte
hörte. Fama verkündete mir also durch den Mund einer
hübschen, blondhaarigen Dirne Folgendes: — „Vor Kurzem
wurde eine vagirende Zigeunerin von einem Gendarmen
verhaftet und sollte zum Amt gestellt werden. Auf dem
Wege dahin bat sie ihren Führer wiederholt, — natürlich
vergebens, — er möge sie doch laufen lassen. Als alle ihre
Bitten erfolglos blieben, sagte sie schliesslich mit einer
Geberde der Resignation: — 'Nun gut, am Ende ist es ja
Alles eins, ob Sie mich freilassen oder einsperren, — in drei
Tagen bin ich ohnehin todt* — Auch dieses Argument
half nicht, und der Gendarm verschärfte nur seine Wachsamkeit
. Und während er seine Gefangene weiter escortirte,
erging sich diese in allerlei Betrachtungen, um zuletzt in
prophetischer Verzückung zu verkünden: — 'Heuer möchte
ich kein Obstbaum, nächstes Jahr kein Soldat und anno
1900 kein ,Herr* sein. Merken Sie sich diese meine Prophezeiung
! Sie wird so sicher eintreffen, wie das, was ich mir
selbst voraussagte!'— Auch diese düstere Weissagung hielt
den Mann den Gesetzes nicht ab, die Vagantin einzuliefern.
Und merkwürdig! Am dritten Tage nach ihrer Inhaftnahme
war die Zigeunerin todt. Anzeichen eines Selbstmordes
waren nicht zu konstatiren. Und nun begann die Prophezeiung
, die allmählich bekannt geworden war, rundum zu
eircuiiren. Hatte man sie anfänglich lächelnden Mundes
vernommen, so besprach man sie jetzt mit sorgengefalteter
Stirne. Nun ja, ihre erste Weissagung war an ihr selbst
mit erschreckender Promptheit in Erfüllung gegangen, den
Obstbäumen geht es heuer auch nicht gut, und mancher
Hagelfall der jüngsten Tage hat schöne Erntehoffnungen
vernichtet, — war da der ,Prophetin* nicht vielleicht doch
ein Blick in die Zukunft möglich, können nicht auch die
,anderen* Schrecknisse eintreten? Das ist jetzt die Frage
des Tages in mancher Bauernstube, an manchem Wirths-
haustische. Je unbestimmter jene Prophezeiung gehalten, je
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