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514 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1898.)
reale Wunder, so wie die Prophezeiung bloss etwas Vorausgesetztes
ist, und, wenn ihr noch immer nicht dazu gekommen
seid, in dem, was wir gesehen haben, etwas anderes zu
erblicken als das, was man eine [Revolution heisst; wenn ihr
glaubt, dass diese so sei wie eine andere, dann habt ihr sie
nicht gelesen, noch bedacht, noch empfunden. In diesem
Falle würde sogar die Prophezeiung, wenn sie stattgefunden
hätte, höchstens ein Wunder sein, das für
euch nur verloren wäre wie für die anderen,
und dies wäre dann das grösste Unglück.'1 —
So schliesst Laharpe seine ernste und fromme Betrachtung,
in der jede Weissagung schlechthin als göttliche Eingebung
angesehen wird, was offenbar zu weit geht, wenn auch die
religiöse Ekstase leicht die Prophetengabe entbindet. Von
diesen Sätzen haben alle rationalistischen Beurtheiler
selbstverständlich sofort triumphirend Kenntniss genommen,'
und ihnen schien es nun nach laharpe'$ eigenen Worten
vollständig ausgemacht, dass jene Weissagung Wind sei.
Bekanntlich hält ja der weltkluge Rationalismus, sobald
er nur einen Anhalt findet, um etwas ihm Befremdliches
zu verwerfen, es nie der Mühe für werth, tiefer einzudringen
und Gründe und Gegengründe länger abzuhören. Die
Wahrheit, die ihn sättigt, ist immer die billigste,
Mit der Weissagung Cazotte's nach Laharpe's Darstellung
nebst dem Nachworte scheint es nun durchaus nicht so übel
zu stehen, dass wir ihrer Wahrheit schnurstracks das Leben
absprechen müssten. Wir möchten behaupten, dass es mit
dem Sinn und Geist von Laharpe's Nachwort am Ende doch
ganz anders bestellt sei, als es dem flüchtigen Blicke erscheint
. Ehe wir indess io der Rolle des Anwalts die
Absichten Laharpes mit seiner Schilderung genauer
charakterisiren und darauf den richterlichen Schiedsspruch
über die uns angehende Frage fällen, ist noch einer anderen
Pflicht zu genügen.
Es sind Zeugen da, die für jene Weissagungen Cazotte's
und die Richtigkeit der Darstellung Lahatpe's, theilweise
sogar als unmittelbare Zeugen der geschilderten Abendgesellschaft
, eintreten. Diese müssen wir abhören.
1) Zunächst hat ein Herr de JV. nach Angabe der von
Jung-Stüling benutzten Broschüre (s. Jung-Stilling1% „Theorie
der Geisterkunde" S. 171) — leider nicht mit vollem Namen
— in den Pariser Zeitungen erzählt, dass er oft von Cazotte,
den er sehr wohl kannte, die Ankündigung der schweren
Drangsale Frankreichs hörte, währeud alle Welt noch in
vollkommener Sicherheit lebte. Ob das von ihm Vernommene
sich mit Laharpe9 s Darstellung decke, sagt er nicht.
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