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522 Psychische Studien XXV. Jahrg. 10. Heft. (Okiober 1898.)
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft liegen klar vor dem
inneren Auge. Der Somnambulen Hochschlaf ist ein schwaches
Abbild dieses Zustandes, der den Propheten und vielen
anderen Menschen, auch Christus eigen war. Er ist die
Quelle der sogenannten Offenbarungen. Nicht alle solche
Offenbarungen haben jedoch einen völlig realen Werth, weil
das Schauen in Bildern geschieht und die spätere Repro-
duction im wachen Zustande vielfach mit Vermischung der
Erinnerungsbilder einhergeht, abgesehen davon, dass Menschen
mit niederer mystischer Entwicklungsstufe überhaupt nur
unvollkommen sehen, da ihre Sinne nicht vollkommen abgeschlossen
sind, wie es der Fall ist bei den gewöhnlichen
medial-somnambulen Zuständen. In dem Zustande der
göttlichen Offenbarung, wo der Mensch sich eins mit Gott
fühlt, resp. wo das im Tage3menschen herrschende Persönlichkeitsgefühl
vollständig geschwunden und das Bewusstsein
der Zugehörigkeit zum göttlichen All vorhanden ist, wird
der Mensch nicht mehr durch die Materie gehemmt und
sein individuelles Ich, sondern er verfliesst in seinem
Bewusstsein mit der grossen, Einen, vom Intellect, der nur
mit der Materie rechnet, nicht erfussbaren Wesenheit, welche
all das in sich hält, was wir Gott nennen. Er ist Eins mit
seinem Gott. Von Gott trennt uns nur das Ich-
bewusstsein. Die Unterdrückung des Ichbewusstseins im
Fühlen, Denken, Wollen und Handeln ist demnach der
Weg, der uns zu Gott zurückfühlt und, wie das zu machen
sei, die Lehre der Religionsstifter. Das mangelnde Ver-
8tä;idniss für diesen Punkt ist der Stein, an dem der
Philosoph, der Verstandesmensch scheitert, der nur mit den
Sinnen rechnet. Die Unterdrückung des Ichgefühls und alles
dessen, was mit dem persönlichen Ich verbunden ist, ist der
Weg der Rückkehr zu Gott. Die Selbstsucht ist der Gegner
Gottes und die Selbstüberwindung der erste Schritt der
Heimkehr zu Gott. Alle Lehren der wahren Religionsstifter
laufen auf dies hinaus, besonders die Lehre Christi. Wie
schwer und schmerzlich diese Abtrennung vom Ich geschieht,
zeigt uns das Leben und Leiden Christi, das uns im historischen
Schmuck symbolisch den Weg zu Gott schildert. Es ist
schwer, sich in eine solche, für die gewöhnliche Anschauung
neue, in Wirklichkeit aber uralte esoterische Religionslehre
einzuleben, die so vielmehr Kraft vom Menschen verlangt
als die langgewöhnte, bequeme, exoterische Auffassung vom
Christenthum mit einem Gottwesen, das mit sich Handel
treiben lässt und nichts verlangt als das Fürwahrhalten
einiger historischer Daten, das Ableiern etlichei Gebete,
das Halten etlicher Gebote und das Thun guter Werke u. s. w.,
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