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Bormann: Die Zeugnisse für die Weissagungen* Cazotte's etc. 581
Gräfin Genlis und Beauharnais werden uns freilich als
Bürginnen für die korrekteste Uebereinstimmung von Laharpe'%
mündlichen Anführungen mit dem tiedruckten genannt. Ihr
Wort in Ehren; aber, da Erinnerungstäuschungen sich
selbst bei den wahrheitsliebendsten Menschen im Laufe der
Jahre und sogar in kurzer Zeit einstellen, so sind das keine
vollgiltigen Beweise. Für so gut wie zweifellos gilt uns nur
dies, dass Cazotle vor grösserer Versammlung Wahrsagungen
über die französische Revolution verkündet, und dass Laharpe
diese Wahrsagungen bald darnach aufgezeichnet hat. üb
Punkt für Punkt seine viel später gedruckten Darstellungen
mit den echten Weissagungen Cazotte's sich decken, das
braucht nicht gerade bezweifelt, kann aber auch ebenso
wenig bestimmt behauptet werden.
Ausgeschlossen nur ist die Möglichkeit, dass die wahren
Prophezeiungen Cazotte's, wie sie Laharpe 1788 aufschrieb,
gar nicht eingetroffen und von den später von Laharpe aufgezeichneten
völlig abgewichen wären; denn wenn Laharpe
einen Propheten, dessen Prophezeiungen, wie wir sahen, so
bekannt waren, und der sich dann vor aller Welt blamirte,
als solchen gefeiert hätte, so würde er sich dem Fluche der
Lächerlichkeit preisgegeben haben.
Um der ganzen Frage näher zu rücken, wollen wir nun
einmal die Schildeiung Laharpe's von Anfang bis zu Ende
als ein Ganzes in ihrer Alt und Weise recht aufzufassen
suchen. Vergessen wir also für einen Augenblick die Zeugnisse
über die Echtheit der Prophezeiungen, und betrachten
wh Laharpe^ Erzählung an sich. Wenn wir sie als blosse
Erdichtung zuliessen, wäre die unweigerliche Bedingung
dafür, dass sie auch das Recht einer Dichtung in Anspruch
nähme, oder, wenn als solche misslungen, mindestens bei
einem Verfasser wie Laharpe, noch dazu in den kurzen
Umrissen, die sie hat, doch einen dichterischen Plan wahrnehmen
Hesse. Bei solcher Betrachtung fällt es nun zunächst
auf, dass das kleine Stück alle eingehenden Schilderungen
der Persönlichkeiten unterlässt, die für einen Romancier
lebhaft dem Leser zu vergegenwärtigen sicherlich verlockend
war, wo es sich um Berühmtheiten und Charakterköpfe,
wie Pailly, Condorcet, Chamfort und Cazotte, den Seher selbst,
handelte und die Elite der Damenwelt versammelt war.
Von solcher Charaktermalerei ist hier keine Spur. Dürfen
wir nun deshalb dem kleinen Gemälde die dichterische
Absicht und Wirkung kurzer Hand absprechen? Könnte
nicht am Ende sogar eine dichterische Absicht vorliegen,
die gerade auf diesem Wege ihr bestimmtes Ziel
erreicht? Was ist der eigentliche Ausdruck des Stückchens?
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