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636 Psychische Studien. XXV. Jahrg. 12. Heft (Deoember 1898.)
Orthodoxie (alten Rechtgläubigkeit) in den Rationalismus
(die sogenannte aufklärerische Vernunftreligion) schon in
ziemlich weiten Kreisen vollzogen. Sie selbst hatte wegen
ihrer Heirath vom Calvinismus zum Katholicismus übertreten
müssen, war aber im Herzen der Prädestinationsoder
Vorbe8timmungs-Lehre innerlich ergeben geblieben,
las fleissig die Bibel und setzte das Wesen der Religion
iu Nächstenliebe und Rechtschaffenheit. Sie war und blieb
die einzige Person am Hofe, die keine Schulden machte.
Sie war auch frei vom sogenannten Aberglauben ihrer
ehemaligen Glaubensgenossen, die besonders in den
schottischen kalvinistischen Gemeinden infolge ihres tiefen
Bildungsstandes (so behauptet wenigstens der anonyme
Berichterstatter) dem alierdüstersten Aberglauben, dem
Hexenwahne, noch lange ergeben blieben. Denn der
Berichterstatter hat offenbar selbst keine persönliche
Erfahrung auf diesem so Viele verblendenden Gebiete. „Da
ist es nun interessant, (fährt er fort,) zu erfahren, wie
völlig frei ron allem Aberglauben 'Madame' schon in der
Zeit war, wo in Deutschland und Schottland noch die
Hexenbrände rauchten. Sie hört gern Märchen und Gespenstergeschichten
, versichert aber, sie glaube weder an
Gespenster, 'noch follets [Irrlichter], noch nichts
dergleichen.' [Natürlich, denn sie hatte dergleichen selbst
niemals zu erleben Gelegenheit. In diesen Dingen soll man
nicht blos glauben oder nicht glauben, sondern wissen und
sich selbst zu überzeugen suchen.-— Refer.] Sie freut sich,
dass es gelungen sei, die Erscheinung 'blutiger' Aehren
natürlich zu erklären, kdenn zu unseren Zeiten verändern
sich die Menschen nicht mehr in Pflanzen, als wie zu
Aeneai Zeiten, da er des Polidore Blut noch an einem
abgerissenen Ast fand von einem Baum.' — Wo man an
Geister glaubt, erwidert sie auf die Mittheilung einer
Spukgeschichte, sieht man allzeit welche; hier (in
Paris) glaubt man nicht daran, also sieht man keine.' [Ganz
dasselbe war ja noch bis gegen Ende dieses 18. Jahrhunderts
der Fall, als man auch an die doch so oft sichtbaren
Meteore und deren Fall auf die Erde nicht glauben
wollte und sie deshalb auch nicht sah! — Refer.] 'Geister,
gestehe ich', — schreibt sie am 26. Juli 1699 an ihre liebe
hannoversche Tante Sophie, [die berühmte philosophische
Kurfürstin, welche Leibniz an ihren Hof gezogen hatte, und
deren Tochter die erste Königin von Preussen werden
sollte! - Refer.] 'habe ich grosse Mühe zu glauben; denn
wäre etwas, so uns unbekannt und sich doch weissen (weisen,
offenbaren) könnte, würde man mehr Gewissheit davon
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