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638 Psyohiscbe Studien. XXV. Jahrg. 12. Heft. (December 1898.)
Charlotte wiederholt versichert, Niemand etwas auf das
lateinische Geplärr*. An ihre Schwester Amalie Elisabeth
schreibt sie 1705: — 'Die französische Katholische sind bei
weitem nicht wie die Deutsche, Spanier, Portugiesen und
Italiener. Erstlich so kann man sie nicht vor Papisten
schelten, denn sie fragen den Papst gar nichts nach und
halten ihn nicht vor unfehlbar, sondern nur vor das Haupt
der Geistlichen. Man liest fleissig die heilige Schrift hier,
und es ist gar nicht verboten. Der ,popel< hat Aberglauben,
aber ehrliche Leüte und Leüte von condition gar nicht/ —
Aber auch von den Italienern weiss sie, dass sie aufgeklärter
sind als die Deutschen. . . . Auch die Verfolgung der
Reformirten in Frankreich, das sah Charlotte deutlich, entsprang
keineswegs einem Wiederaufflammen des Fanatismus
im Volk oder in den höheren Standen, sondern nur dem
Zusammentreffen des hierarchischen [priesterherrschaftlichenJ
Interesses mit dem Umstände, dass eine einzelne bigotte
Person den König ihrem Pantoffel unterworfen hatte. . . .
In der Seele der Herzogin von Orldans trafen beide
Geistesrichtungen [des zum reinen Monotheismus und
philosophischen Deismus der vornehmen Engländer fortschreitenden
schweizerischen Protestantismus und des aus
Italien und den anderen romanischen Ländern entstandenen
heidnischen Humanismus] zusammen. Schon zu ihrer Zeit
war die Aufklärung der französischen Gesellschaft zum
völligen Unglauben fortgeschritten. Als ihre Tochter, die
Herzogin von Lothringen, des Kaisers Franz* 1. Mutter, 1718
zum Besuch bei ihr weilt, findet sie das Pariser Leben
nicht blos der Laster wegen abscheulich, sondern auch,
weil die jungen Leute nicht mehr an Gott glauben. Die
Fasten, schreibt Charlotte 1705 an Amalie Elisabeth, halte
sie nicht; in Paris seien die Pfaffen nicht so beherzt* den
Teufel zu den Damen zu schicken; 'die Damen seind zu
sehr gedenissirt (?) [wohl kniefällig verehrt] hier, und wenige
fürchten den Teufel/ Sie findet es abscheulich, dass es
nicht mehr Mode sei, an eine andere Welt zu
glauben; sie sagt das 'platt heraus* und wird dafür ausgelacht
, 'aber ich frage kein Haar danach, sage allzeit
meine Meinung platt heraus.' Nun hatte freilich dieser
Unglaube eine sehr unlautere Quelle: — man glaubte nicht
mehr an jene Welt, weil man bei dem Lasterleben, das
man führte, Grund hatte, sie zu fürchten. Das hatte die
doppelte Wirkung, dass nicht wenige — Charlotte erzählt
einen Fall — vor dem Tode zu Kreuze krochen und äusserst
erbaulich starben, und dass andrerseits die officielle Religion
zur reinen Komödie wurde. 'Der Glauben*, heisst es in
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