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Gaj: Wahrträume und Visionen.
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Angjeüja schon in Fieberhitze und erkrankte sehr heftig
an Morbillen. Nach fünfzehntägiger Krankheit war es noch
immer nicht besser, sondern es wurde immer schlechter und
schlechter. Diese ganze Zeit schlief ich nur wenige Stunden,
und zwar im Sessel, beim Bette sitzend. Eine Nacht ist dem
Kinde wieder sehr schlecht. Ich rufe den Arzt um 11 Uhr
Nachts. — 'Es steht schlimm, bereiten Sie sich auf das
Aergste vor.' — Ich war vor Schreck wie erstarrt. Der
Doctor sass bis \}\t Uhr Nachts bei dem Kinde. Er verordnete
ein Medicament, das ich genau jede halbe Stunde
eingeben musste. Sollte das Kind auch schlafen, ich solle
es wecken, da diese Nacht die Krisis eintreten werde und
alles von meiner Wachsamkeit abhänge. Er versprach,
Morgens um 7 Uhr wieder zu kommen. — Ich erinnere
mich genau, dass ich bis 21/* Uhr Nachts dem Kinde regelmässig
das Medicament gegeben habe, und nachdem ich um
2*/2 Uhr wieder das Medicament verabreicht hatte, setzte
ich mich neben das Bett und hielt in der linken Hand die
Uhr, um genau auf die Stunde aufzupassen; mit der rechten
stützte ich mich auf das Polster, überzeugt, dass ich in
dieser unbequemen Stellung nicht einschlafen könnte. Und
doch schlief ich ein. — Da ist schon der Greis. Er sagt
mir, ich solle schlafen gehen, da ich erkranken werde. Ich
will es nicht, da von meiner Wachsamkeit das Leben des
Kindes abhänge. — 'Ich werde Alles statt Deiner thun,
und solltest Du nöthig sein, Dich rufen1, — antwortet er
mir, Ich will dennoch nicht folgen; da sagt er streng und
zornig: — 'Hast Du gehört, was ich sagte? Du musst
befolgen, was ich sage; ich befehle Dir, in's Bett zu gehen!
Lege Dich nieder und schlafe!' — Ich weiss nicht, wann
ich mich in's Bett niedergelegt habe, aber ich fand mich
Morgens angezogen im Bette. Erschrocken springe ich auf,
mich erinnernd, dass ich dem Kinde das Medicament von
21/* Uhr Nachts ab nicht mehr verabreicht hatte. Das
Kind fand ich aber in ruhigem Schlafe und in starkem
Schweisse gebadet. Das beruhigte mich, da mir der Arzt
immer gesagt hatte, dass es ein Glück wäre, wenn sie nur
in Schweiss verfallen würde. Die Lampe, welche neben dem
Bette brannte, war verloschen. Ich bin der Meinung, das
Petroleum wäre verbrannt, schaue nach, aber sehe, dass es
noch für die ganze Nacht genug Petroleum gäbe. Ich überzeuge
mich, dass die Lampe zurückgeschraubt wurde. Meine
Uhr steht vorsichtig angelehnt, wie ich sie jede Nacht vorbereite
. Auch heute noch kann ich mich weder erinnern,
noch erklären, wie ich nur gegen meinen ganzen Willen
und Entschlu8s das Kind verlassen, die Lampe verlöschen
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