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656 Psychische Studien XXV. Jahrg. 12. Heft. (December 1898.)
doch im Verhältniss zu diesem grossen Werke Himmels und
per Erde vor Gott möchte geachtet sein.
„Weil ich aber befand, dass in allen Dingen Gutes
und Böses war, in den Elementen sowohl, als in den Creaturen,
und dass es in dieser Welt dem Gottlosen so wohl ginge als
dem Frommen, auch die barbarischen Völker die besten
Länder inne hätten, und ihnen das Glück wohl noch mehr
beistünde, als den Frommen: ward ich wegen alles dessen
ganz melancholisch und hoch betrübt, und konnte mich keine
Schrift trösten, welche mir doch ganz woh! bekannt war,
wobei denn auch der Teufel nicht mag gefeiert haben,
welcher mir oft heidnische Gedanken an die Hand gab,
deren ich allhie verschweigen will.
nAls sich aber in solcher Trübsal mein Geist ernstlich
und wie in einem grossen Sturm in Gott erbub, und mein
ganzes Herz und Gemüth sammt allen anderen Gedanken
und Willen sich darein schloss, ohne Nachlassen mit der
Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen und nicht abzulassen
, er segnete mich dann, d. i. erleuchtete mich mit
seinem heiligen Geiste, dass ich seinen Willen verstehen
und meiner Traurigkeit los werden möchte; da brach der
Geist durch.
„Als ich aber in meinem angesetzten Eifer also gewaltig
wider aller Höllen Pforten stürmte, als wären meiner Kräfte
noch mehr vorhanden, des Willens, auch das Leben daran
zu setzen (welches alles freilich mir nicht möglich gewesen
wäre ohne des Geistes Gottes Beistand): alsbald nach etlichen
harten Stürmen ist mein Geist durch der Höllen-
Pforten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der
Gottheit, und allda mit Liebe umfangen worden, wie ein
Bräutigam seine liebe Braut umfäht.
„Was aber da für ein Triumphiren im Geiste gewesen,
kann ich nicht schreiben oder reden; es lässt sich auch mit
nichts vergleichen als nur mit dem, wo mitten im Tode das
Leben geboren wird, und vergleichet sich mit der Auferstehung
von den Todten. In diesem Lichte hat mein Geist
alsbald durch alles gesehen, und an allen Creaturen, selbst
an Kraut und Gras Gott erkannt, wer er sei, und wie er
sei, und was sein Wille sei. So ist denn auch alsbald in
diesem Lichte mit grossem Triebe mein Wille gewachsen,
das Wesen Gottes zu beschreiben." (Aurora 19, 4—13.)
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